Boston-Anschläge beweisen: Journalisten haben neue Aufgaben

Social Media und die Anschläge in Boston – die Kombination wird immer absurder und zeigt uns vor allem eines: das News-Ereignis «gehört» nicht mehr den Journalisten. Dafür entwickelt sich ein immer klareres Aufgabenfeld der digitalen Journalisten. Mit dem angestammten Berufsbild hat dieses allerdings nur marginal zu tun.

Die Anschläge in Boston zeigen: Die Journalisten haben ihre Nachrichten-Hoheit definitiv abgegeben.
Die Anschläge in Boston zeigen: Die Journalisten haben ihre Nachrichten-Hoheit definitiv abgegeben.

Wenn plötzlich Behörden, Polizei-Kommandanten und Hacker-Kollektive dieselbe Öffentlichkeitswirkung wie Medienhäuser erzielen, müssen wir uns ernsthaft fragen, welche Aufgabe den Journalisten noch zukommt. Wenn sich plötzlich die Netzgemeinde – obwohl es eine solche nicht gibt – auf die Suche nach einem möglichen Täter macht und auch mal gegen den falschen hetzt (um sich später reumütig zu geben), sind wir definitiv im digitalen Zeitalter angelangt. Und wenn die Polizei plötzlich via Twitter verlauten lässt, man solle unverzüglich die Berichterstattung über die Aufenthaltsorte der Beamten einstellen, müssen wir uns fragen, mit welchen Mitteln ein Rechtsstaat im Internet-Zeitalter seine Autorität noch durchzusetzen vermag.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir überlege, wie mit den heutigen digitalen Möglichkeiten von den Anschlägen am 11. September 2001 berichtet worden wäre. Und ich bin auch nicht der einzige, der sich diese Frage im aktuellen Zusammenhang erneut stellt.

Vor einigen Monaten hat sich Dean Praetorius, Trend- und Social Media-Journalist bei der Huffington Post, dieselben Gedanken gemacht. Er kommt zum Schluss, dass sich Social Media vor allem als Vorteil für die spätere Aufarbeitung und die Übersichtlichkeit in dieser Tragödie hätte ausgespielt. Betrachtet man die Entwicklungen im Zusammenhang mit den weitaus kleineren Geschehnissen in den letzten Tagen in Boston, so beschleicht einen das Gefühl, die umgekehrte Tendenz habe eingesetzt.

TV vs. online – Live-Sendung von CNN.
TV vs. online – Live-Sendung von CNN.

Die Informationsflut ist enorm. Innerhalb von vier Tagen wurden mehr als 15 Millionen Tweets zum Thema verfasst. Jeder positioniert sich als Experte und Journalisten vergessen in der Hitze des Gefechts – Adrenalin lässt grüssen – ihre grundlegenden Aufgaben: überprüfen, erklären und Zusammenhänge herstellen. Dabei ist das Vertrauen (auch in der Echtzeit-Berichterstattung) das höchste Gut, über welches Journalisten verfügen.

Trotzdem werden – hauptsächlich von dieser Berufsgruppe – via Social Media unverifizierte Informationen weitergeleitet, mit dem Gefühl, ein simpler Beitext würde vom Fakt, dass die Informationen nicht überprüft wurden, ablenken.

Ein Journalist ist immer Journalist. Vor allem wenn er als solcher und der entsprechenden Öffentlichkeitswirkung in Social Media aktiv ist. Welchen Nutzen hat ein Verweis auf unverifizierte Informationen, wenn diese kurze Zeit später relativiert werden müssen?


Nur Menschen können Inhalte aus Social Media überprüfen – eine Anleitung in drei Schritten. Foto: Rafael Mendoza/flickr

Journalisten müssen Inhalte aus Social Media verifizieren. Wie das geht, habe ich in einer dreiteiligen Serie mit zahlreichen Linktipps zusammengestellt.


 

Was bleibt? Zurück zum Papier oder vielleicht ganz auf die Echtzeit-Berichterstattung verzichten, da diese sowieso fehleranfällig ist?
Als bekennender Onlinejournalist kann ich diese Forderung natürlich nicht so im Raum stehen lassen. Vielmehr sollten wir uns bewusst werden, welche Aufgabe uns Journalisten in solchen Situationen zuteil wird und welche sonstige Entwicklung uns droht:

Jeder wird von allen verdächtigt.
Jeder wird von allen verdächtigt.

In Zeiten der «Teilen»- und «Retweet»-Buttons unterscheiden Nutzer nicht zwischen verifizieren und berichten. Es gilt nur eines: Die Information aus ihrem sonst so dünnen Kontext herausreissen und weitertragen. Umso wichtiger werden die ursprünglichen Aufgaben eines Journalisten: neue Informationen aufdecken und überprüfen.

Erstmals ist das Publikum von Beginn an gleich oder sogar besser orientiert als die Medienmacher. Umso wichtiger wird eine neue – für die meisten Journalisten auch eine unbekannte – Aufgabe: Diese müssen neuerdings nicht die schlechten und mitreissenden Informationen ausblenden, sondern diese im Voraus als solche erkennen und ihre Fehlerhaftigkeit aufzeigen. Ansonsten unterstützen sie den Nährboden für Verschwörungstheorien oder untergraben sich selbst in ihrer Glaubwürdigkeit.

Stellvertretend dafür sei nochmals auf die Anschläge in Boston verwiesen: Nachdem die Journalisten und Leserreporter sich nicht an die Aufforderung der Polizei hielten, nicht die ermittlungstaktischen Informationen preis zu geben, wurden diese weggeschickt.

 

Geht man einen Schritt weiter – was durchaus vorstellbar ist – so könnte in einem demokratischen Rechtsstaat die Polizei auch mal die Internetverbindung kapern, um so ein Informationsvakuum zu erzielen. Der Super-Gau einer solchen Entwicklung ist vorgeplant.

Weiterführende Artikel

Die laufend aktualisierte Auflistung mit Artikeln zum Thema gibt es hier.

 

10 Kommentare

Ich würde differenzieren wollen zwischen Informationsbereitstellung und Informationsaufarbeitung. Ich habe an dem Abend von Boston selbst mitbekommen, wie groß der Vorspung von Twitter und Co. gegenüber dem Agentureingang im Redaktionssystem und den Online-Portalen war. Aber ich denke, für den Fall Boston wie für andere „Große Lagen“ galt und gilt: Je mehr Stunden/Tage das Ereignis zurückliegt, desto mehr verliert das Ad-hoc-Medium Twitter seine Stärke der puren Information, die Anziehungskraft seiner Hysterie des Augenblicks, des Wettkampfs um das reine Tempo der (ungeprüften) Veröffentlichung – und desto mehr kommt die Stärke der (geprüften) einordnenden Info-Aufbereitung des professionellen Journalismus zum Tragen. Das werden User/Leser auch in Zukunft honorieren. Insofern gibt es für mich kein völlig überholtes Berufsbild des Journalisten, nur eines, das sich immer rasanter auf neue Umfelder der und Zugänge zur Informationsbeschaffung und -bereitstellung einstellen muss.

Ich sehe das anders. Gerade bei der Boston-Berichterstattung hat sich gezeigt: Twitter und Facebook lagen sehr oft falsch. Gerade was die Fotos von angeblich Verdächtigen angeht, hat es es geradezu mittelalterlichen Pranger-Anstrich und quasi Aufrufe zur Selbstjustiz an Unschuldigen. Erst die Filterung der einzelnen Eindrücke durch Journalisten zeigte denn ein klares Bild, welches allerdings auch nicht immer fehlerfrei war.

Interessante Inputs. Finde ich aber dennoch etwas einseitig gedacht – aus der Ecke des Journalisten. Die Unterscheidung zwischen Hobby und Professionell finde ich bedenklich.

1. Dennoch haben Hobbyreporter und Fotografen Beweismaterial generiert, auf welches das FBI zurückgreifen konnte. Zugleich wurden vom FBI Informationen, Fotos und Videos gezielt für eine Mithilfe veröffentlicht. Ohne Social Web wäre diese Zusammenarbeit.
–> Die Zusammenarbeit verschiedener Akteure und die gegenseitige Achtung und Würdigung ist zentral.

2. Früher ging alles verdeckter, mit weniger Transparenz über die Bühne. Die Polizei hatte duzende falscher Fährten, hat falsche Leute verdächtigt etc. Heutzutage ist alles öffentlicher, mehr Leute nehmen am Prozess teil, ob erwünscht oder unerwünscht. Schlussendlich wurden die Täter gefasst und dafür waren diverse Iterationsschritte nötig.
–> We are living in a beta world! Wer annimmt alles sollte perfekt ablaufen, lebt nicht in unserem Jahrhundert.

3. Auch schon früher fand ich die Qualität des Journalismus sehr unterschiedlich. Gerade in Fachthemen war zwar ein methodisches Know-how vorhanden, aber as Fachwissen hat erzählt. Einige Journalisten überschätzen ihre Fachkompetenz und meinen überall mitreden zu können. Schlussendlich kommen dann so unglaublich peinlich unqualifizierte Artikel wie diese raus: http://www.derbund.ch/wirtschaft/unternehmen-und-konjunktur/Digitales-Gold/story/29392091 (ein Anglizist und Ethnologe macht auf Wirtschaftsjournalismus)
–> Schuster bleib bei deinen Leisten, gilt für Journalisten, Bloggern und Twitterer.

3. Es ist eine Chance sich als Journalist, mit den erlernten Know-ho w und Prinzipien zu positionieren und Fakten mehrfach zu prüfen. Ein gutes Gegengewicht zu den notorischen Retweetern. Hier kann sich ein Journalist unabhängig von einem Verlag einen Namen machen. Dennoch geht die Tendenz klar zum „Jekami“-Journalismus und wird sicher auch auch einiges auf den Kopf stellen, wie das ja bereits schon in gewissen Bereichen passiert ist: Die meisten lessen Techblogs und glauben den klassischen Magazinen wie Chip&Co nicht mehr, was sie über die Produkte schreiben. Das ist aber auch eine Verantwortung für jeden, der im Social Web aktiv ist:
–> Die journalistischen Prinzipien sollte von jedem angewendet werden. Neben Kommunikationskompetenz wäre dies für mich etwas grundlegendes, was man in der Schule lernen sollte. Wichtiger als Newton, Descartes oder Goethe.

Grundsätzlich gehe ich mit Dir einig Mike, aber gerade zu 2. gibt es natürlich die andere Sicht. Solange mich *nur* die Polizei verdächtigt, komme ich zwar in die Mühle und habe die entsprechenden Unannehmlichkeiten. Aber im SoMe-Zeitalter landet mein Konterfei dutzendfach retweetet im Web. Und wenn ich Pech habe, jagt dann die Meute mit Messern oder anderen Waffen hinter mir her.
Von späterem Kollateralschaden, weil man es nicht mehr aus dem Web rausbringt, wage ich nicht mal zu sprechen.

Ich weiß nicht genau, was du mit „digitalem Journalist“ meinst, und was du „mit neuen Aufgaben“ meinst.

Meiner Meinung nach waren die Ereignisse der letzten Tage das größte Werbeplakat für traditionellen Journalismus. Schon vor Twitter war doch die Aufgabe von Journalisten: Quellen zu finden, Fakten zu checken und dann zu verbreiten.

Viele der selben Menschen, die fünfzehn Minuten nach der Schießerei an der MIT-Uni mitten in der Nacht nach dem Fernsehen gerufen hat, wo es denn bleibe, und warum es denn nicht berichte, haben sich später beschwert, dass sie in der Hitze des Gefechtes Falschinformationen vorgesetzt bekommen haben.

Aber Fakten-checken und Einordnen braucht Zeit, und bevor man etwas weiß, sollte man lieber nichts sagen. Bis ca. 4 Uhr heute Morgen (amerikanische Zeit) war noch nicht mal wirklich klar, ob das einfach eine kleine Schießerei war, oder mit den Bomben vom Montag zusammenhängt. Dennoch ist auf Twitter, verständlicherweise, schon die Hölle ausgebrochen. Denn eine Schießerei ist schrecklich, wenn man dort ist – aber von nationalem oder gar globalem Interesse ist sie sicherlich nicht.

Dass in einem solch chaotischen und emotionalen Ereignis eine Menge Verschwörungstheoretiker, Hobbydetektive und Achtlose mitreden, ist ja nicht neu. Dass man deren Theorien und Fakten nicht ungeprüft weitervebreitet, ist auch keine neue Aufgabe.

Wenn Matt Buchanan in seinem New-Yorker-Artikel meint, „das Web“ wäre in der Suche nach dem Verdächtigen „gescheitert“, gibt mir das zu Denken. „Das Web“ gibt es nicht – doch es bietet Hobbydetektiven eine Plattform, wie allen anderen auch.

In der Hitze des Gefechtes haben dies vor allem die weiter erzählt, die Quote machen wollen – auch heute: ein Buzzfeed-Journalist, die „New York Post“ und CNN. Nicht gemacht, und ordentlich (und schnell) berichtet haben: NPR oder die New York Times oder das Wall Street Journal.

Sie haben es richtig gemacht: Sie haben den Hobbydetektiven zugehört, dank Twitter hatten sie direkten Zugriff, dann überprüft und die meisten ihrer Erkenntnisse verworfen. Das war schon immer die Aufgabe von Journalisten.

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