Agile Produktentwicklung: Wie Design Thinking den Journalismus verbessern kann

Wer sich mit der Zukunft des Journalismus auseinandersetzt, liest täglich auf Twitter, dass es nicht mehr reicht, einen simplen Fliesstext über ein Ereignis zu schreiben und dies anschliessend als Journalismus zu verkaufen. Aber wie kann Innovation in der Medienbranche gefördert werden? Ein Lösungsversuch.

Wer heutzutage im Journalismus Innovation betreibt, kopiert oft Bestehendes für das eigene System. Auf diese Weise werden unzählige journalistische Produkte entwickelt, ohne ein einziges Mal diejenigen um ihre Meinung zu fragen, die das Produkt schliesslich nutzen sollen: das Publikum. Obwohl eigentlich klar sein sollte.

In Zeiten zunehmender Dynamik und Komplexität von Problemstellungen sind vermehrt agile Lösungen gefragt.

Im klassischen Innovationsprozess gibt es unzählige Kreativitätsmethoden. An der Schnittstelle Mensch, Technologie und Wirtschaft hat sich in letzter Zeit eine zentrale Methode durchgesetzt: Design Thinking. Obwohl in der Kommunikations- und Medienbranche leider noch oft unbekannt, könnten genau wir Medienschaffende von dieser Methode enorm profitieren, um unsere Medienangebote zu verbessern.

Denn Design Thinking geht vom Grundgedanke aus, dass insbesondere interdisziplinäre Teams echte, herausragende Innovationen erschaffen können – die klassische Herangehensweise, wie wir sie vor allem im digitalen Journalismus immer häufiger antreffen.

Wichtig bei der Design Thinking-Methode sind drei Dinge:

  • die immerwährende Nutzerperspektive in den Prozessphasen
  • die kontext- und zeitabhängigen Bedürfnisse dieser Nutzer
  • das Vor- und Zurückspringen während der Prozessphasen – die so genannte Iteration im System

Design Thinking ist in erster Linie eine hilfreiche Methode für mehr Agilität in komplexen Systemen. Die Methode lässt sich in sechs Prozessschritte unterteilen, die zur Orientierung und groben Strukturierung der Entwicklung neuer Produkte dienen.

Wie Design Thinking den Journalismus verbessern kann.
Der Design-Thinking-Prozess umfasst sechs Phasen. Grafik: HPI School of Design Thinking.

verstehen

Zunächst geht es darum, die Problemstellung und Ausgangslage zu verstehen. Um möglichst viel Know-How abdecken zu können, lohnt es sich, viele verschiedene Fachexperten aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen und Hierarchiestufen in den Prozess zu integrieren. Dies hat zwei positive Effekte:

  • Zwischen den Disziplinen kommt es so zum Austausch von Fachwissen und methodischen Fähigkeiten. Insgesamt verfügt das Team damit über breiteres Wissen und mehr Lösungskompetenzen.
  • Indem jedes Teammitglied seinen eigenen Blickwinkel und seine eigenen Erfahrungen mitbringt, können auch andere Teammitglieder von diesen Sichtweisen profitieren.
    Das Ziel der «verstehen»-Phase ist es, dass unter allen Teammitgliedern Einigkeit über die Problemstellung herrscht.

beobachten

Zuhören, beobachten und nachfragen ist die neue Ausgangslage. Ziel ist eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit der Zielgruppe und deren Bedürfnissen in Abhängigkeit zur Nutzungssituation und -zeit. Wer sich zum Beispiel Gedanken über ein neues mobile-Angebot macht, sollte sich in erster Linie mit dem Kontext und User-Flow auseinandersetzen.
Oft geht das interdisziplinäre Team dazu direkt ins Feld und führt mit den Zielpersonen in deren Lebensalltag qualitative Interviews. Wichtig ist hierbei auch eine detaillierte Dokumentation der Ergebnisse.

Sichtweise definieren

Auf die Beobachtungsphase folgt das Clustern und Fokussieren: Hier werden aus den gewonnenen Erkenntnissen die wichtigsten extrahiert und genauer untersucht. Häufig werden in diesem Schritt konkrete Personas kreiert. Dabei handelt es sich um fiktive Personen, welche die Bedürfnis-Cluster abdecken, die während der qualitativen Erhebungen am meisten genannt wurden.
Dieser Schritt hilft den beteiligten Teammitgliedern während der künftigen Konzeptionsphasen und auch bei der Umsetzung die Nutzerperspektive nicht zu vergessen.

Ideen finden

Nun wirds richtig kreativ: In diesem Schritt geht es darum, möglichst viele Ideen – natürlich mit Fokus auf die definierten Nutzerbedürfnisse der Personas – zu sammeln. Hierzu können verschiedene Kreativitätstechnik wie zum Beispiel Brainstorming eingesetzt werden.
Die resultierende Fülle an Ideen wird in einem nächsten Schritt wiederum geclustert und nach Umsetzbarkeit und Attraktivität priorisiert. Auch hierbei können die Nutzerbedürfnisse als hilfreicher Spiegel zur Entscheidfindung beigezogen werden.

Prototypen entwickeln

Die Top-Ideen werden als nächstes zu Prototypen ausgebaut. Diese können gezeichnet, gebastelt oder vorgetragen werden. Wichtig ist, dass sich alle Teammitglieder unter den vorgestellten Prototypen konkrete Produktideen vorstellen können. In mehreren Iterationen werden die Visualisierungen weiter konkretisiert. So entstehen aus abstrakten Ideen greifbare Produkte, die zu einem späteren Zeitpunkt mit der Zielgruppe getestet werden können.
Weshalb es sinnvoll ist, schnelle und kleine Prototypen zu produzieren, hat Kollege Dirk von Gehlen hier notiert.

testen

So schnell wie die Prototypen entstanden sind, sollten sie auch Vertreterinnen und Vertretern aus der Zielgruppe vorgestellt werden. Wichtig ist ein unverblümtes und kritisches Feedback in Alltagssituationen. Auf diese Weise ist es möglich, die Prototypen schnell weiterzuentwickeln oder auch ganz zu verwerfen. Ziel ist eine Produkteidee, die nicht 100% der Zielgruppe zufriedenstellen muss, aber mindestens eine Mehrheit überzeugt und die laufend optimiert werden kann.

iterativ

Der Design-Thinking-Prozess kann in mehreren Schritten immer wieder von vorne durchlaufen werden. Bei einer konkreten Projektumsetzung ermöglicht diese Methode ausserdem, nahtlos in iterative Produktionszyklen überzugehen. So wird zum Beispiel die Design-Thinking-Methode für die Konzeptionsphase häufig durch die Scrum-Methode während der Umsetzungsphase abgelöst.

Übergang des Design-Thinking in den Scrum-Prozess.

Design Thinking wird bereits vereinzelt in der journalistischen Produktentwicklung eingesetzt. So hat ZEIT Online mit dieser Methode ihren Website-Relaunch von 2015 geplant und umgesetzt und auch bei SRF setzen wir diese Methode immer wieder erfolgreich bei der Konzeption von neuen Programm- und Produktentwicklungen ein.


Literaturtipps zu Design Thinking im Journalismus

Wer sich tiefer mit der Design-Thinking-Methode auseinandersetzen will, wird hier fündig:

Mit diesen Apps klappt Design Thinking im Handumdrehen:

Titelbild: Marcus Brodt im Rahmen des 4. Crossmedia-Tages des netzwerk medien-trainer.

4 Kommentare

[…] Agile Produktentwicklung: Wie Design Thinking den Journalismus verbessern kann Wer sich mit der Zukunft des Journalismus auseinandersetzt, liest täglich auf Twitter, dass es nicht mehr reicht, einen simplen Fliesstext über ein Ereignis zu schreiben und dies anschliessend als Journalismus zu verkaufen. Aber wie kann Innovation in der Medienbranche gefördert werden? Ein Lösungsversuch. […]

Iterativ: sehr gut.
Interdisziplinär: logisch. Am Besten, jede/r im Team kann selbst zwei Disziplinen
Nutzer im Blick: auch gut.

Aber es greift zu kurz, nur die Nutzer im Blick zu haben. „Was wollen wir?“ – die eigene Motivation – ist ebenbürtig, „was haben wir?“ – die eigenen Ressourcen – muss man abklopfen, usw. Einen guten Überblick über diese und weitere Fragen liefert das Product Field, finde ich. Methode + Canvas. Leicht zu googeln.

[…] Mit diesem Ansatz eines veränderten „readers-service“ arbeitet das Beta-Team nicht nur daran, die Idee einer Tageszeitung auf digitale Wege übertragen und eine direktere Verbindung zur Leserschaft herzustellen. Das Beta-Team verändert vor allem auch die Arbeitsweise klassischer Tageszeitungs-Redaktionen. „Die Beta-Mitarbeiter arbeiten in interdisziplinären Teams, in denen Redakteure gemeinsam mit Produktmanangern, Gestaltern, Entwicklern und Datenanalysten versuchen, den Times Journalismus an die Bedürfnisse der Leser anzupassen“, erläutert der Text und schlussfolgert: „Dieser Prozess ist ungewohnt für zahlreiche alteingesessene Reporter und Redakteure der Times, aber er wird zum Standard in Unternehmen, in denen Produktentwicklung und journalistische Produktion eng verschlungen sind – wie zum Beispiel auch bei Vox Media.“ (wer sich für diese Arbeitsweise interessiert, kann hier bei Konrad Weber weiterlesen) […]

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