Warum die Produkt-Denke im Journalismus noch immer fehlt

Wer in der Medienbranche erfolgreich sein will, kommt um die Verbindung zwischen Publizistik, Technologie, Business und Nutzungsanalyse nicht mehr herum. Trotzdem hat ein ganzheitliches Produktmanagement in vielen Redaktionen noch immer einen schweren Stand. Eine Suche nach möglichen Gründen – und 3 Tipps, wie die Produkt-Denke dennoch erfolgreich in der eigenen Organisation etabliert werden kann.

Rückblickend wird 2020 als das Jahr des digitalen Umbruchs in die Geschichte eingehen. Dazu gehört auch die zunehmende Geschwindigkeit, mit der sich das bisherige Geschäftsmodell von Massenmedien – Reichweite für Werbung zu verkaufen – in Luft auflöst. Werbung als tragende Säule ist bereits seit längerem am bröckeln, 2020 werden die Risse umso sichtbarer.

Trotzdem würden die Antworten auf die Krise in der Medienbranche bereits seit längerem auf dem Tisch liegen: Es geht um neue Prozesse und Produkte. Bereits vor fünf Jahren schrieb Cindy Royal, dass «Produktmanagement den Kern eines ’neuen Journalismus’» darstellt.

Visualisierung zum Verständnis von Produktmanagement im Journalismus als Schnittmenge von Publizistik, Nutzerbedürfnissen, Technologie und Business.

Wer in der Medienbranche überleben möchte (und dies im besten Fall auch erfolgreich tun will), kommt um die Verbindung zwischen Publizistik, Technologie, Business und Nutzungsanalyse nicht mehr herum. Dennoch hat diese ganzheitliche Produkt-Denke noch immer einen schweren Stand im Journalismus.

Warum ist das so?

Auf der Suche nach Antworten habe ich 6 mögliche Gründe auf diese Frage gefunden. Spoiler: Viele davon sind in der Unternehmenskultur der Verlage und Medienhäuser verankert.


Grund 1: Fehlendes Produktverständnis

Was ist eigentlich ein (funktionierendes) journalistisches Produkt? Während früher™️ eine Zeitung oder ein TV-Sender ein klassisches Medienprodukt darstellte, sind journalistische Produkte heutzutage kaum mehr abschliessend aufzählbar. Im Unterschied zu früher, müssen heute die Art und Weise der Verbreitung, Vermarktung und Nutzung umso stärker direkt mit der Entwicklung des Inhalts mitgedacht werden. Fehlendes Produktverständnis führt dazu, dass Inhalte zwar entstehen, jedoch kaum bis zur Nutzung beim Kunden durchdacht werden.

Stellt ein regelmässiger Newsletter mit den wichtigsten Artikeln der vergangenen Stunden ein Produkt dar? Wie steht es um das Newsbriefing, das auch als Audio-Skill auf Google Home oder Alexa angeboten wird? Und was ist mit den (noch vor Corona) regelmässig angebotenen Leserveranstaltungen? Die einfache Antwort lautet: Bei allen Beispielen handelt es sich um journalistische Produkte. Die kompliziertere Antwort lautet: Es kommt auf die Konsequenz der Umsetzung darauf an, ob es sich tatsächlich um ein journalistisches Produkt handelt.

Journalistische Produkte können jedoch auch «nur» indirekt beim Publikum einen Nutzen auslösen, zB. wenn es sich um neue interne Vorhaben wie Content-Management-Systeme, Abodienste und Analyseprodukte handelt, die einer Organisation helfen, ihre Abläufe effizienter zu gestalten.

Eine Produkt-Definition innerhalb des Unternehmens hilft allemal, um hier gleich zu Beginn Klarheit zu schaffen.


Grund 2: Neue Möglichkeiten zur Kooperation werden verhindert

Die meisten Journalist*innen sehen sich noch immer als unfehlbare Autor*innen und damit zugleich auch ihre eigene Geschichte als die einzige und wichtigste in der gesamten Publikation. Das verhindert neue Möglichkeiten zur Kooperation und ein gesamtheitliches Produktverständnis.

Klar: Ein Medium kommt nicht ohne relevante und gut recherchierte Geschichten aus. Und ja, die besten Geschichten erreichen stets ein Publikum. Doch sind längst nicht alle publizierten Geschichten pulitzerpreisverdächtig. Umso wichtiger ist ein funktionierendes Zusammenspiel zwischen Inhalt, Design und Technologie – gepaart mit Daten- und Marketing-Know-How, damit die Geschichten tatsächlich entdeckt und genutzt werden.


Grund 3: Chinesische Mauern zwischen Verlag und Redaktionen

Während Jahrzehnten wurde in Redaktionen (und Journalistenschulen) das Primat der publizistischen Unabhängigkeit als höchstes Gut gelehrt. Keine Frage, dass dies in digitalen Zeiten mit sinkendem Vertrauen in Journalist*innen und Medienhäusern stärker denn je seine Berechtigung hat.

Trotzdem verunmöglichen die auf unantastbaren Prinzipien gebauten chinesischen Mauern zwischen Verlagsabteilungen und Redaktionen eine dringend notwendige Kollaboration. Dies hat in gewissen Organisationen sogar bereits neue Monetarisierungsmöglichkeiten verhindert.


Grund 4: Mangelndes Methodenwissen

Nebst dem erwähnten fehlenden Produktverständnis sorgt aber auch mangelndes Methodenwissen dazu, dass Produktmanagement noch immer in vielen Medienhäusern ein Fremdwort darstellt. Was macht denn nun eigentlich ein*e Produktmanager*in in einem Medienhaus?

«Produktmanager*innen sind die ursprünglichen Silobrecher», argumentiert Shannan Bowen. Das Geschäftsfeld entstand in Technologieunternehmen, um die Kluft zwischen Marketing- und Technologieteams zu überbrücken und die Stimme des Kunden während der gesamten Produktentwicklung zu vertreten.

Letztendlich sind die Produktmanager*innen für den Erfolg eines Produkts verantwortlich. Es ist ihre Aufgabe, ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen des Publikums, den Geschäftszielen und den technologischen Herausforderungen zu finden, um Produkte zu liefern, die die Menschen lieben.


Grund 5: Leadership zur Unterstützung von Produktmanagement ist nicht etabliert

Wer Produkt-Denke im Unternehmen etablieren will, sollte mit entsprechendem Beispiel voranschreiten. Leadership zur Unterstützung von Produktmanagement bedeutet, Transparenz, Inklusion und eine ganzheitliche Betrachtungsweise bei Entscheidungen anzuwenden, die auf Top-Management-Ebene gefällt werden.

Zugleich sollten Vorgesetzte Raum und Möglichkeiten schaffen, damit sich Mitarbeitende über ihre eigene Funktion hinaus weiterentwickeln können. Jedes Medienhaus benötigt früher oder später neue Rollen und Funktionen, um das eigene Produktportfolio auf- und auszubauen. Dazu braucht es mehr technisch versierte Mitarbeitende, die gleichzeitig aber auch das nötige Medienverständnis mitbringen. Dies gelingt nur, falls entsprechende Anreize zur Kollaboration gesetzt und Aus- und Weiterbildungen in diesen Bereichen angeboten werden.

Bereits 2015 hat Bosch einen mutigen Schritt in diese Richtung gewagt: Das Industrieunternehmen strich damals sämtliche individuellen Boni. Damit wollte die Geschäftsleitung intern wie auch extern ein Zeichen setzen: weg von individuellen Anreizen, hin zu einem gemeinschaftlicheren Verantwortungsbewusstsein.


Grund 6: Trend- und Bedürfnisanalyse findet nicht statt

Wer Produktmanagement ernsthaft betreiben will, muss sich laufend mit neuen Technologie-Entwicklungen und veränderten Nutzerbedürfnissen auseinandersetzen. Ein Vorgehen, das mit Aufwand und Investitionen verbunden ist. Obwohl die Medienbranche derart starken digitalen Veränderungen ausgesetzt ist, findet die Trend- und Bedürfnisanalyse in vielen Medienunternehmen nur sporadisch statt. Doch mit einzelnen kleinen, kaum aufeinander abgestimmten Aktionen lassen sich bei weitem keine Rückschlüsse über künftiges Marktpotential, benötigten Investitionsbedarf und strategische Priorisierungen ableiten.

Zum Vergleich: Es gibt Branchen, die das ständige Forschen und Weiterentwickeln tief in ihrer DNA verwurzelt haben. Die 10 grössten Pharma-Unternehmen der Welt haben im Jahr 2019 (also noch vor Covid-19!) allesamt zwischen 14-25% ihrer Gesamteinnahmen direkt in ihre Research- & Development-Abteilungen reinvestiert. Diese Branche hat über Jahrzehnte gelernt: Nur durch regelmässige Trendanalyse und konstante Weiterentwicklung ist das eigene Überleben langfristig gewährleistet.


Wie können wir darauf reagieren?

Nach all diesen Gründen stellt sich schnell die Frage: Lohnt sich der Aufwand überhaupt, eine gesamtheitliche Produktorientierung in der eigenen Organisation aufbauen zu wollen? Und falls ja, wie soll das genau funktionieren?

Der einfache Teil der Antwort: Es ist nie zu spät, um mit dem Aufbau von Produktmanagement und dem entsprechenden Methodenwissen zu beginnen. Ich empfehle dazu ein schrittweises Vorgehen.

kurzfristig

Beginnen Sie mit einem kurzen, abgeschlossenen Format, in welchem eine neue interdisziplinäre Organisationsform schnell und ohne grossen Aufwand getestet werden kann.

Solch eine mögliche Form stellt ein Design Sprint während fünf Tagen dar. In einem zeitlich begrenzten Rahmen werden zu einer aktuellen und im Unternehmen vorherrschenden Problematik schnell Lösungen basierend auf echten Bedürfnissen entwickelt.

mittelfristig

Als nächste Stufe der Produktorientierung können einzelne bereits bestehende oder neue Produkte bewusst mit geteilter Verantwortung und Nutzerorientierung entwickelt werden.

Dazu macht die Ernennung eines Product Owner Sinn, der*die ganzheitlich und im Sinne der Nutzerbedürfnisse und des Produkt-Markt-Fit denkt. Als praktisches Hilfsmittel zur Positionierung eines Produktes kann das Product Field dienlich sein. Hier habe ich beschrieben, wie agile Produktentwicklung im journalistischen Umfeld umgesetzt werden kann.

Stoppuhr als Icon

langfristig

Wer Produktmanagement längerfristig in der DNA der Organisation verankern will, sollte neue Funktionen (Data, UX, Distribution, Marketing, Community) und Rollen etablieren.

Die Klärung des Purpose der Organisation und die daraus abgeleiteten strategischen Ziele helfen bei der Steuerung der Vorhaben im Produktmanagement und ermöglichen selbstorganisierte Prozesse. Des weiteren kann das Produkteportfolio mittels OKR-Erfolgsmessung laufend überprüft und angepasst werden.

Um den Austausch zwischen News-Produktmanager*innen zu stärken, wurde vor einigen Tagen die News Product Alliance lanciert. Hier finden Sie mehr Informationen zu dieser Initiative und können selbst auch Mitglied dieser Bewegung werden.

Sämtliche meiner obenstehenden Vorschläge gelten natürlich nicht nur für die Medienbranche. Auch Unternehmen aus anderen Branchen, welche neue Geschäftsfelder erschliessen, Produkte und Dienstleistungen am Markt testen oder andere Absatzmöglichkeiten entwickeln möchten, können von diesen Methodiken profitieren.

Bei den Kollegen von Refind habe ich einen Deep Dive zu nutzerzentrierter Produktentwicklung zusammengestellt: Während 11 Tagen gibt es täglich einen kostenlosen Lesetipp via Mail zugestellt.

Auf dem Weg zu einer verstärkten Produktorientierung innerhalb Ihrer Organisation unterstütze ich Sie gerne – sei es für eine kurzfristige Optimierung oder eine längerfristige Prozessbegleitung.

Sie möchten die Produktorientierung in Ihrer Organisation stärken?

Gerne berate ich Sie auf diesem Weg und entwickle mit Ihnen einen möglichen Vorgehensplan. Ich freue mich auf Ihre unverbindliche Anfrage.

Auf der Suche nach weiteren Tipps?

Tipps zu Strategieprozessen und Organisationsveränderungen liefere ich übrigens auch in unregelmässigem Abstand als kostenlosen Newsletter. Dazu gehören kurze Einordnungen, Leseempfehlungen und Praxis-Beispiele rund um die Themen digitale Transformation, Change Management und Strategiearbeit.

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