Praxisbeispiel: Wie die New York Times die digitale Transformation meistert

Gross war die Überraschung, als die New York Times diese Woche angekündigt hat, dass sie für einen «niedrigen Millionenbetrag» das virale Quiz Wordle aufkaufe. Obwohl das vielleicht erstaunen mag, kommt der Kauf nicht von ungefähr. Das Medienhaus investierte bereits seit längerem in Games und baute den Bereich in letzter Zeit massiv aus.

Ein passender Zeitpunkt, um die Strategie und den digitalen Transformationsprozess der ursprünglich «Grauen Lady» etwas genauer anzuschauen. Wie ist es gelungen, dass das Medienhaus in vergleichsweise kurzer Zeit einen solch fundamentalen Wandel realisieren konnte?

Innovation Report als Befreiungsschlag

Weit weg scheinen die Erinnerungen, als im Mai 2014 der «Innovation Report» geleakt wurde. Der Report gilt bis heute als eines der wichtigsten Dokumente unseres Medienzeitalters. Darin räumte ein Team unter der Führung von Arthur Gregg Sulzberger, dem Sohn des damaligen Herausgebers und designierten Nachfolger, schonungslos mit der veralteten Strategie und den auf Print ausgerichteten Strukturen des Medienhauses auf.

Im Nachgang betrachtet scheint dieser Bericht damals als Befreiungsschlag gewirkt zu haben: «Wer diesen Report liest, kann nicht zum Schluss kommen, dass der Status quo eine Option ist. Nachdem dies der Mehrheit der Mitarbeitenden klar wurde, entwickelten sich die Gespräche plötzlich viel produktiver. Es ging nicht mehr darum, ob wir uns ändern sollten, sondern wie wir uns verändern können», erklärt Sulzberger im Rückblick.

Task Force zur digitalen Transformation des Newsrooms

Inspiriert durch die Strategien von Netflix, Spotify und HBO fand fortan eine radikale Konzentration auf das Kerngeschäft Journalismus statt. Gleichzeitig wurden kontinuierlich neue Online-Dienste und Funktionen ergänzt – von der personalisierten Fitnessberatung und interaktiven Newsbots bis hin zu Virtual-Reality-Filmen – mit dem Ziel, dass ein Abonnement für die bestehenden Nutzer:innen unverzichtbar und für künftige Abonnent:innen attraktiver wurde.

Die Investitionen in die Qualität zahlten sich mit Pulitzer-Preisen aus. Die Börse wiederum belohnte das Unternehmen mit entsprechenden Wertsteigerungen. Gleichzeitig wurde die Task Force «Group 2020» ins Leben gerufen, um Redaktionsprozesse und -strukturen im Newsroom digital zu transformieren.

Neuer Wert für die Erfolgsmessung

In ihrem detaillierten Report, der Anfang 2017 veröffentlicht wurde, lieferte die Task Force aufschlussreiche Massnahmen für die kommenden 3 Jahre: Ein stärkerer Fokus auf visuelle Inhalte, eine grössere Vielfalt an digitalen Storytelling-Formaten und ein neuer Ansatz bei Service-getriebenen Inhalten. Die Task Force kündigte ausserdem an, dass die Times eine alternative Kennzahl zu den Seitenaufrufen einführen werde, die stattdessen «den Wert eines Artikels zur Gewinnung und Bindung von Abonnent:innen misst».

Treibt die digitale Transformation bei der New York Times massgeblich voran: CEO Meredith Levien.
Meredith Levien, CEO der New York Times.

Diesen Erfolgskurs verantwortet seit September 2020 die Geschäftsführerin Meredith Levien. Vormals als Werbe- und Abochefin der Times ist es Levien gelungen, das Business-Modell des Medienhauses fundamental zu transformieren. Doch dies nicht ohne tiefgreifende Einschnitte: Innerhalb von 18 Monaten wurden 80% der Mitarbeitenden in der Werbe- und Abo-Abteilung ausgetauscht. «Wir mussten so viele Leute entlassen, weil wir in kurzer Zeit eine komplett andere Art von Geschäft betreiben mussten», erklärte sich Levien.

Transformation vom werbefinanzierten zum abobasierten Geschäftsmodell

Bis noch vor wenigen Jahren war die NYT zu 70% werbefinanziert. Doch dann kam der Wechsel: Im Sommer 2020 machten die Einnahmen aus dem Lesermarkt bereits 60% des Umsatzes aus. Tendenz weiter steigend. Im Herbst 2020 überstiegen die Einnahmen aus den digitalen Abos sogar erstmals die Print-Einnahmen.

Den Schlüssel zu diesem Erfolg sieht Meredith Levien an zwei Stellen: Zum einen in der Qualität, dem Umfang und der Tiefe des Journalismus und zum anderen durch das Denken in digitalen Produkten.

«Es ist fundamental, dass wir uns als Unternehmen für digitale Produkte und Technologien weiter verbessern. Das war in den letzten Jahren der Schwerpunkt meiner Arbeit.»

Meredith Levien, CEO der New York Times

Unterdessen arbeiten rund 700 Mitarbeitende in der Technologie-Abteilung. Damit handelt es sich um den zweitgrössten Bereich innerhalb des Medienhauses – nach der Publizistik mit derzeit rund 1700 redaktionellen Mitarbeitenden. Von den 700 Personen in der Technologie-Abteilung arbeitet der grösste Anteil in der Produktentwicklung gefolgt von der Datenabteilung, dem Produktmanagement, Produktdesign und Marketing.

Gebündelte und klar positionierte Angebote für digitalen Erfolg

Mit Games, Rezepten, Audio und Wirecutter hat die New York Times rund 8 Millionen zahlende Nutzer:innen an sich binden können.
Zunahme der digitalen Abos der New York Times seit der Einführung der Paywall im März 2011.

Es ist vor allem der Bereich mit gebündelten digitalen Produkten, welcher in den letzten Jahren dank der gefüllten Kriegskasse laufend ausgebaut wurde – und auch zum konstanten Wachstum an digitalen Neu-Abos beitrug.

Dazu gehören:

Dieser Ausbau bei Games und Quizzes kam zum genau richtigen Zeitpunkt: Als mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie die Leute plötzlich mehr Zeit hatten, gingen die Zahlen bei der NYT durch die Decke. Alleine mit dem Games-Angebot – bisher v.a. bekannt für seine Kreuzworträtsel – wurden 2021 rund 1 Mio. Abos verkauft.

100 Mio. zahlende Nutzer:innen als Marktpotential

Ebenfalls vor wenigen Wochen kaufte die NYT die Abo-basierte Sport-Website The Athletic für 550 Mio. US-Dollar – in bar (!). Die 2016 gegründete Sport-Seite hatte im Dezember 1,8 Millionen Abonnenten und berichtet über mehr als 200 Vereine und Mannschaften in den USA und auf der ganzen Welt.

Nicht weiter erstaunlich ist deshalb auch, dass mit diesen Zukäufen das für 2025 ausgerufene Ziel von 10 Mio. Abonnent:innen bereits drei Jahre früher als geplant erreicht wurde. Doch damit nicht genug: Als neues Ziel wurde diese Woche bereits die 15 Mio.-Abo-Marke für Ende 2027 ausgerufen. Und Meredith Levin macht klar, wohin die Reise künftig geht: «Angesichts der Chance, einen potentiellen Markt von mindestens 100 Millionen Menschen erreichen zu können, die für englischsprachigen Journalismus zahlen wollen, investieren wir weiterhin sowohl in den Wert unserer einzelnen Produkte als auch in das Gesamtpaket.»

Fragen? Andere Beispiele?

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