Verzweifeltes Community Management bei der ARD Tagesschau
Shitstorm-Alarm am Dienstagabend bei der ARD – soeben wurde die Facebook-Seite von der Netzgemeinde geentert. Die zum Teil heftigen Reaktionen zeigen vor allem eines: Der Zuschauer verlangt viel, vergleicht aber auch Äpfel mit Birnen.

Diesmal hat es die ehrwürdige Tagesschau der ARD getroffen: Angesteckt durch die Occupy-Proteste in Spanien (Berichterstattung bei RTVE, bei BBC) versuchen sich am Dienstagabend auch in Deutschland User Gehör für ihre Proteste zu verschaffen. Und wo geschieht das abends zu Hause sitzend am Besten? Genau, im Netz und zwar dort, wo einerseits die kritische Masse vorhanden ist und andererseits bei jenen, die stolz den Qualitätsjournalismus propagieren: auf der Facebook-Seite der ARD Tagesschau.
Hui, derber Shitstorm bei der Tagesschau. facebook.com/tagesschau
— Markus Huendgen (@videopunk) September 25, 2012
Wie Ulf Kippke ausführlich im Spottblog.de zusammenfasst, beginnt die Kommentarflut um ca. 19 Uhr. Mit jeder Tagesschau-Ausgabe – in welcher notabene nicht über die Ereignisse berichtet wird – steigt der Puls der Tagesschau-Facebook-Fans. Immer wieder versucht die tagesschau.de-Redaktion die Wogen zu glätten und die eigenen publizistischen Entscheidungen zu rechtfertigen.

Schliesslich – um 20.47 Uhr – sieht sich die Redaktion gezwungen, einen klärenden Post zu verfassen. Wie heute.de-Journalist Martin Giesler festhält, könnte dies erst recht Auslöser für die darauffolgende Reaktionsflut sein.

Auch nach Mitternacht will die Ruhe in den Kommentarspalten nicht zurückkehren, fast 1800 Äusserungen sind es um 1.30 Uhr. Interessant dabei ist vor allem die Erwartungshaltung der User. Von Livestreams, Zensur und Bildungsaufträgen ist die Rede. Immer wieder wird die ARD mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Spanien verglichen. RTVE war bereits kurz nach Ausbruch der Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude in Madrid mit mehreren Livekameras und Studio-Kommentar on air. Eine ausserordentliche Leistung, die rein aus technischer Sicht von ausländischen Sendeanstalten auf die Schnelle so niemals hätte angeboten werden können.
Kommt hinzu, dass die Kommentar-Schreiber für Onlinemedien und Nachrichten im Fernsehen plötzlich dieselbe Geschwindigkeit und inhaltliche Fülle verlangen. Ein merkwürdiger Ansatz, werden doch hier Birnen mit Äpfel miteinander verglichen. Klar, man hätte in den Spätnachrichten der ARD Tagesschau die Ereignisse – wenn auch nur kurz – erwähnen müssen. Dennoch kann auch in Zukunft ein Fernsehsender mit den aktuellen Qualitätsansprüchen an Storytelling, Form und Inhalt niemals mit versendeten Tweets, hochgeladenen Fotos oder rudimentär zusammengeschnittenen Youtube-Videos mithalten. Das ist auf die lange Frist aber auch nicht die Aufgabe dieses Mediums. Deshalb erstaunen solche Kommentare umso mehr.


Es ist nicht nur der merkwürdige Vergleich zwischen Fernsehen und Onlinemedien, sondern vielmehr auch die von den Usern eingeforderte Bringschuld der ARD gegenüber dem Publikum, die mich erstaunt. Auf keiner anderen Medienseite wurde auch nur annähernd so viel und so hart kritisiert wie bei der ARD. Obwohl auch SPIEGEL Online, heute.de und Focus Online nur «klein» über das Ereignis berichten, fallen die Reaktionen verhältnismässig sanft aus. RTL aktuell, sueddeutsche.de und ZEIT Online berichten am Abend erst gar nicht über die Proteste, müssen allerdings auch keine nennenswerten Reaktionen verbuchen. Können es wirklich nur die GEZ-Gebühren sein, die User zu solch aufgebrachten Kommentaren treiben oder ist da vielleicht doch auch der Herdentrieb mit verantwortlich?
Immerhin konnte diese Herde für ziemlichen Staub sorgen, der wohl auch in den nächsten Tagen noch durch die deutsche Medienszene wirbeln wird. Sollte der Tagesschau-Shitstorm auch am Mittwoch noch weiterdrehen, könnte er auf der Shitstorm-Skala von Barbara Schwede und Daniel Graf leicht von aktuell Platz 3 (mässig bewegte See) um einige Stufen nach oben verschoben werden. Allerdings ist dies nicht die erste raue See, die das Tagesschau-Schiff durchquert. Bereits vor wenigen Monaten musste das jüngste Kind der Tagesschau, die tagesWEBschau, daran glauben.
Disclosure: Auch bei uns, auf der Facebook-Seite der SF Tagesschau, gab es einzelne kritische Kommentare. Der grosse Ansturm wie bei der ARD Tagesschau blieb aber (zum Glück) aus.
Update 1 – 26. September 2012, 15.00 Uhr:
Thomas Hinrichs, zweiter Chefredakteur der ARD Tagesschau meldet sich in einem Blogpost selbst zu Wort und will damit die eigene publizistische Position nochmals klarstellen: «Wir lassen uns nicht beeinflussen oder unter Druck setzen. Die Gebührenfinanzierung begründet unsere Unabhängigkeit.»