Orakelt ihr mal fleissig weiter – wir brauchen Neue Medien

Auch wenn es nicht alle glauben wollen: Spekulationen, Interpretationen und Konjunktivformen gehören längst zum journalistischen Tagesgeschäft. Dies ist ein Zeichen, dass sich Journalisten in Katastrophen und Krisen noch immer auf Institutionen statt auf Menschen verlassen.

Unterhält man sich mit Journalistinnen und Journalisten in Kaderpositionen über die Zukunft des eigenen Metiers, so bekommt man schnell zu hören, nur dank Einordnung, Interpretation und ständiger Herstellung von Zusammenhängen würde der Journalismus in seiner bisher bekannten Form auch in Zukunft noch existieren. In der Newsflut, die uns tagtäglich um die Ohren gehauen wird, kann dieser journalistische Ansatz aber zum lästigen Übel mutieren. So sehen sich Journalisten oft gezwungen nur auf Grund einzelner Informationen, die sie über die altbekannten Newsagenturen erhalten haben, Rückschlüsse zu ziehen, um anschliessend ein Gesamtbild zu präsentieren. Dass dabei oft Fehlinterpretationen und voreilige Schuldzuweisungen veröffentlicht werden, bewiesen die ersten Nachrichten zum tragischen Attentat in Norwegen vor einigen Tagen. Zwei Analysen habe ich hierzu herausgegriffen: Stefan Niggemeier in der Frankfurter Allgemeinen und Stefan Sichermann auf Bildblog.de.

Doch es ginge auch anders. Ich behaupte, dass dem Dilemma «wir-müssen-etwas-berichten-wissen-aber-nicht-was» mit den Neuen Medien zum Teil Abhilfe geschaffen werden könnte. Ein Umdenken bei Journalistinnen und Journalisten, dass man nicht anderen Medien abschreiben, sondern sich und den Mitmenschen vertrauen sollte, würde dabei helfen.

In mehreren Twitter-Schulungen bei der Neuen Zürcher Zeitung stellten Journalisten Thom Nagy und mir immer wieder dieselbe wichtige Frage: «Wie finde ich anhand Neuer Medien in Krisenfällen verlässliche Quellen?»

Hier möchte ich diese Frage mit fünf praktischen Tipps beantworten:

1. Wo und wie finde ich Facts?

Erste Meldungen zu unerwarteten Katastrophen verbreiten sich heutzutage immer via Twitter.

Doch wie finde ich Facts und nicht nur Spekulation? Bei Meldungen mit bestimmtem Ortsbezug (sog. location based tweets) ist dies einfacher: Bereits die erweiterte Twitter-Suche hilft hier mit einigen richtig gesetzten Suchoperatoren weiter.

Erweiterte Twitter-Suche: Nebst Stichwörtern können auch Ort und Sprache festgelegt werden. Zur besseren Übersichtlichkeit würde ich empfehlen, «Retweets» ausblenden zu lassen.
Erweiterte Twitter-Suche: Nebst Stichwörtern können auch Ort und Sprache festgelegt werden. Zur besseren Übersichtlichkeit würde ich empfehlen, «Retweets» ausblenden zu lassen.

Mit dem Browser «Chrome» von Google lassen sich die Tweets sogar in Echtzeit übersetzen. Hierbei ist allerdings die Übersetzung ins Englische der ins Deutsche vorzuziehen, da verständlicher.

2. Wo und wie finde ich Bilder?

Sind die ersten Meldungen auf der Redaktion eingetroffen und hat sich eine Katastrophe über mehrere Kanäle bestätigt, kann eine erste Bild-Recherche eine klarere Übersicht über die Geschehnisse liefern. Da Bilder mit dem neuen Betriebssystem von Apple ab Herbst 2011 auch direkt via iPhone ohne Umweg über eine Bilderplattform getwittert werden können, wird diese Suche künftig noch einfacher.

Zur Zeit müssen deshalb noch Drittanbieter wie twitpic.com oder yfrog.com durchsucht werden. Um einen besseren Überblick zu erhalten, hilft aktuell eine erweiterte Bildersuche via Google mit den entsprechenden Suchoperatoren (z.B. «Oslo site:twitpic.com») weiter. Oft etwas später – jedoch in besserer Qualität – stösst man auch auf Fotoplattformen wie flickr.com auf eine Fülle von Ergebnissen.

3. Wo und wie finde ich Videos?

Ist die Katastrophen-Region in einem Gebiet mit einigermassen gut erschlossener Netzabdeckung, so werden bald auch Videos des Geschehenen auftauchen. Auf twitvid.com (dem Pendant zu twitpic.com) sind solche Kurzvideos – meist zwar in ziemlich ruckliger Qualität – zu finden.

Selbstverständlich lassen sich auch auf dem grössten Videoportal Youtube aktuelle Videos finden.

Über die Schaltflächen «Hochgeladen am» und «Sortieren nach» können schnell aktuelle von älteren Videos aussortiert werden.
Über die Schaltflächen «Hochgeladen am» und «Sortieren nach» können schnell aktuelle von älteren Videos aussortiert werden.

4. Darf ich diese Inhalte überhaupt verwenden?

Nun ist bereits eine ziemliche Fülle an Material zu den Geschehnissen zusammengetragen – doch was machen, wenn man dies nun journalistisch «verwerten» und auf Online-Plattformen, im Fernsehen oder in der Zeitung veröffentlichen möchte?

Normalerweise sind sämtliche Inhalte auf Twitter, Twitpic, Twitvid, Youtube o.ä. Plattformen für jedermann frei zugänglich.

Quellennennung ist allerdings auch hier oberstes Prinzip. Transparenz hilft – vor allem in unübersichtlichen Nachrichtenlagen – dem interessierten Nutzer sich zu orientieren. Da reicht es auch nicht, die Bilder und Videos mit «Quelle: Twitter» oder «Quelle: Youtube» zu veröffentlichen. Der genaue Link zum Ort der ersten Veröffentlichung ist unabdingbar – bei Tweets sollte  der Nutzername mit Verlinkung stets erwähnt werden. Kommt hinzu, dass man vor jeder Veröffentlichung eines Bildes oder Videos, auf das man via Twitter (o.ä. Verbreitungsplattformen) stösst, zuerst beim Veröffentlicher das OK für die Publikation einholt. Dies geht am einfachsten mit einem eigenen Tweet.

Werden Bilder von Fotoseiten wie «flickr.com» bezogen, so gelten spezielle Rechte. Symbolisch sei hierzu auf eine aktuelle Diskussion zwischen einem Blogger und Zeit Online hingewiesen.

5. Wie erfahre ich noch mehr?

Spätestens beim vierten Punkt sollte für jede/n Journalist/in klar werden, dass ein eigenes Twitter-Profil von Vorteil ist, um überhaupt sinnvoll mit diesem Medium arbeiten zu können.

Denn ein weiterer wichtiger Punkt bei Recherchen in akuten Notfällen ist die Vernetzung. Besteht das Netzwerk bereits vor dem Vorfall, stösst man durch Tipps aus der Community auf weitere Informationen, wie zum Beispiel dank dieses Tweets des SF-Journalisten Thomas von Grünigen:

[blackbirdpie url=“http://twitter.com/tvongruenigen/status/94519956850491392″]

 

Doch auch hier gilt: Exakte Prüfung geht vor eigener Weiterverbreitung!

 

Update 1 – 25. Juli 2011, 23.30 Uhr:

Social Media-Meldungen kuratieren statt Nachrichten interpretieren: Gregory Ferenstein beschreibt, wie bei der Washington Post während der Attentate in Oslo mit Meldungen aus den Neuen Medien gearbeitet wurde.

2 Kommentare

Tut mir Leid, aber wie Twitter und andere neuen Medien jetzt zu mehr „Einordnung, Interpretation und ständiger Herstellung von Zusammenhängen“ im Journalismus führen sollen, entzieht sich auch nach dieser Lektüre meinem Verständnis. Allenfalls können sie dem Prinzip „Breaking News“ dienlich sein, doch genau der hat meiner Meinung sehr wenig mit Einordnung, Interpretation und Herstellung von Zusammenhängen zu tun. Da wird doch höchsten einfach mal wiedergegeben, was überhaupt passiert.
Vielleicht sollten Journalisten auch im Internetzeitalter nicht zwingend die Denkweise „wir müssen jetzt einfach irgendetwas berichten“ annehmen, sondern das den neuen Medien überlassen und sich auf ihre Stärken berufen, nämlich einordnen, interpretieren und Zusammenhänge herstellen?
So sehr ich nachvollziehen kann, dass die alten journalistischen Routinen wegen der neuen Medien überdacht werden müssen, so sehr nervt mich der Glaube an die neuen Medien als Heilsbringer für den Journalismus.Der Einbezug von Tweets, Youtube-Videos und Flickr-Bilder macht journalistische Beiträge nicht prinzipiell besser.

Lieber Michi, aka Michael.
Ich verstehe deine Sorgen, Neue Medien seien der Heilsbringer des Journalismus. Trotz meiner Begeisterung gegenüber den unendlichen Möglichkeiten, die Neue Medien bieten, würde ich nie behaupten, die Neuen Medien ersetzen unseren Journalismus wie wir ihn jetzt kennen.
Mein Appell «wir brauchen Neue Medien» hatte schlussendlich dieselbe Aussage, wie du in deinem Kommentar formulierst: Journalisten sollten sich vermehrt auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und einordnen, interpretieren und Zusammenhänge herstellen. Dazu brauchen sie aber zuerst Fakten und diese – und das war meine Hauptbotschaft – könnten sie künftig noch einfacher und genauer via Neue Medien finden und auswerten.
Übrigens hat sich auch das ZDF zum Thema interpretieren vs. spekulieren gerade letztens Gedanken gemacht.

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