Zu lange haben Journalisten versucht, die Welt von ihren Schreibtischen aus zu erklären. Dies hat zur Folge, dass Medienschaffende zur Zeit erschreckend weit vom Leser entfernt ihre journalistischen Produkte produzieren. Facebook und Twitter könnten diese Entwicklung korrigieren und den journalistischen Prozess in Zukunft transparenter und diskursiver gestalten.
Sei es die Ermordung von Osama Bin Laden, das Massaker von Oslo oder der Arabische Frühling: News verbreiten sich heutzutage in erster Linie über Plattformen im Internet. Wer sich diesen verschliesst, geht mit geschlossenen Augen durch die Welt. Durch eine Welt, die sich mitten in einer Kommunikationsrevolution befindet.
Das Internet ist allgegenwärtig – täglich geht jeder und jede von uns mindestens einmal online. Sei es, um dringend eine Nachricht zu schreiben oder eine Information nachzuschlagen. Musste man zu Zeiten von Martin Luther eine weit entfernte Bibliothek aufsuchen, um sich zu informieren, kann dies heute sogar mitten in der Nacht im Bett geschehen.
Sendestudio in der Hosentasche
Doch auch das Veröffentlichen von Informationen war noch nie einfacher als heute. Viel Kraft und mechanischer Aufwand waren vor mehr als 500 Jahren nötig, um die Gutenbergschen Druckerpressen anzutreiben. Heute haben wir alle unser persönliches Studio in der Hosentasche: Ein Mobiltelefon mit integrierter Kamera reicht aus, um überall auf der Welt unsere Beobachtungen mit anderen Menschen teilen zu können.
Die mobile Internetnutzung hat uns geprägt. Dies macht sich vor allem im öffentlichen Verkehr bemerkbar. Selten sieht man Menschen, die an Haltestellen nicht in ihre Smartphones starren. Was früher «verlorene» Minuten waren, wird heute durch «Informationsbeschaffung» ersetzt. Schnell könnte daraus gefolgert werden, wir seien «overnewsed, but underinformed». Unzählige medienwissenschaftliche Studien versuchen, hierzu generalisierende Antworten zu finden.
Dabei hilft nur eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Medienverhalten. Klar ist, dass es um die Zukunft des Journalismus weniger schlimm bestellt ist, als mancherorts zu hören und zu lesen ist. Im Gegenteil: Die zunehmende Nachrichtenflut hat dem Journalismus zu einer neuen Daseinsberechtigung verholfen.
Denn nebst der Kommunikation befindet sich auch die Rolle der Journalisten in totalem Umbruch. Galten Journalisten vor einigen Jahren noch als allwissende Welterklärer, passt sich ihr Berufsbild nun laufend den neuen Kommunikationsumständen an. Aufgrund von Facebook und Twitter haben auch jene eine Stimme, die sich zuvor nur schwer Gehör verschaffen konnten. Spätestens seitdem intelligente Smartphones gelernt haben, für uns zu denken, besitzt jeder von uns eine kleine Gutenberg-Druckerpresse in der eigenen Hosentasche.
Diese Entwicklung hat sichtbare Folgen: Pro Sekunde werden weltweit 3,5 Millionen Mails, über 12 000 Facebook-Mitteilungen und 2000 Twitter-Kurznachrichten versendet. Tendenz steigend. Unter dieser Fülle an Informationen den Überblick zu behalten, Essenzielles von Nonsens zu trennen und journalistische Geschichten zu entdecken, wird die Herausforderung von modernen Journalisten sein.
Der Journalist der Zukunft predigt nicht mehr von seiner Kanzel, sondern stösst Diskussionen an, die auf verschiedenen Plattformen nachhallen. Und hier beginnt der zweite Teil der journalistischen Arbeit: Moderne Journalisten hören zu, moderieren und nehmen Feedback aus der Leserschaft auf – eine Leserschaft, die mit der Distribution der digitalen Inhalte zur Selektion im Journalismus beiträgt.
Basisdemokratischer Journalismus
Dies hat zur Folge, dass der gesamte journalistische Prozess transparenter und diskursiver wird. Plötzlich haben alle eine Stimme, darf jedermann mitreden. Kritiker behaupten, dadurch bilde sich ein scheinbar sicheres Gefühl eines Demokratieausbaus. Doch betrachtet man die Entwicklungen genauer, so stellt sich heraus, dass erst mit den technologischen Neuerungen die Chancengleichheit und das Mitspracherecht gestiegen sind.
Gerade Facebook und Twitter eröffneten Möglichkeiten, die man sich als Journalist früher nie hätte vorstellen können. In Sekundenschnelle erfahren wir in der Schweiz, was sich zur selben Zeit am anderen Ende der Welt abspielt. Nie werden wir Journalisten zur selben Zeit überall sein können.
Doch dank den neuen Medien ist überall «einer von uns». Als Journalist stellt sich die Frage, wie man dieses Potenzial effizient nutzen könnte. Vor allem im angloamerikanischen Raum haben sich vielfältige Anwendungsmöglichkeiten etabliert. Betrachtet man den Kurznachrichtendienst Twitter, so fallen drei Verwendungsarten auf:
- Twitter bildet Stimmungen ab, stellt mittels Stichworten (so genannten «Hashtags») in Sekundenschnelle aktuelle Themen dar und verbindet Menschen mit ähnlichen Schwerpunkten. Mit gezielter Vernetzung eignet sich Twitter perfekt, um verschiedene Tendenzen und Meinungen zu beobachten.
- Twitter ist direkt und schnell. Deshalb mauserte sich Twitter in den letzten Jahren zur idealen Breaking-News-Plattform. Mit mehr als 200 Millionen Nutzern weltweit ist Twitter zwar viermal kleiner als Facebook. Trotzdem ist das Wissen dieser Masse immens. Mit den passenden Suchalgorithmen bildet Twitter einen perfekten Fundus für journalistische Geschichten.
- Twitter ist und bietet eine Plattform. Mit einem Klick können Kurzmitteilungen ein Vielfaches an Rezipienten erreichen. Vor allem ungehörte Stimmen können sich mit diesen technologischen Möglichkeiten Gehör verschaffen. Ist eine Idee innovativ, ein Gedanke einzig und neuartig, so wird er auf Twitter schnell Interessenten und weitere Übermittler finden.
Neue Rollen für Journalisten
Betrachtet man nur diese Zusammenstellung, könnte man schnell zum Schluss kommen, Twitter beherrsche die Zukunft des Journalismus. Dies ist bei weitem nicht der Fall. Selbstverständlich entwickelt sich der Journalismus auch an anderen Ecken und Enden. Die ständige Newsflut – verursacht auch durch Twitter und Facebook – zwingt Journalisten, in neue Rollen zu schlüpfen. Teamarbeit und Arbeitsteilung wird in den kommenden Jahren immer wichtiger. Bei einer unüberblickbaren Fülle an Informationen nimmt der Stellenwert der journalistischen Selektion zu. Twitter und Facebook ermöglichen Journalisten, aus ihren kryptischen Kürzeln herauszusteigen und stummen Buchstaben ein Gesicht zu verleihen.
Klar, dass wir Köpfen mehr vertrauen als ästhetisch designten Logos. Die durch neue Medien etablierte Feedbackkultur macht Journalisten greifbarer. Deshalb reicht es in Zukunft nicht mehr, nur laut zu brüllen. Vielmehr müssen Journalisten hinstehen und die eigenen Argumente verteidigen können. Erst die Moderation der kritischen Leserschaft lehrt Journalisten, für einst Gesagtes geradezustehen. Dadurch entstehen tiefgründigere Debatten mit mehr Inhalt und höherer Diskussionsqualität.
Im besten Fall beginnt sich somit eine positive Aufwärtsspirale zu drehen. Denn durch hochwertigere Debatten, die ihrerseits Bestandteil des Journalismus werden, können auch Journalisten profitieren. Rezipienten bringen neue Aspekte in die Diskussionen ein, die Berichterstattung wird vielseitiger – und wer weiss: Im Glücksfall stösst der eine oder andere Journalist dabei sogar auf einen unerwarteten Primeur.
Dieser Artikel wurde im Rahmen der Jubiläumspublikation «175 Jahre Aargauer Zeitung» abgedruckt.
3 Kommentare
[…] Es reicht nicht mehr, wenn Journalisten laut brüllen | konradweber.ch […]
Interessanter Artikel. Fragt man sich doch nur, warum am Ende zwar Facebook- und Google-Links zu finden sind, aber keiner zu Twitter.
Danke für die Überlegungen! Als Gegenbeispiel für diese Argumentation immer nützlich: Monocle zeigt, dass man auch ohne digitale Strategie gutes Geld verdienen und exzellenten Journalismus bieten kann.