Praxisbeispiel: So arbeitet die selbstorganisierte Redaktion von Neue Narrative
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Vor wenigen Tagen hat Neue Narrative die magische Grenze der ersten 10’000 Abonnent:innen geknackt. Das Team hinter dem jungen Wirtschaftsmagazin ist mit der Mission an den Start gegangen, Geschichten aus einer neuen, egofreien Arbeitswelt zu erzählen. Diese Geschichten sollen zum Anpacken, Nachmachen und Weiterdenken einladen. Dabei will das Team nicht nur über eine neue, menschenzentrierte Arbeitswelt schreiben, sondern versucht gleich selbst, der Prototyp einer selbstorganisierten, verantwortungsbewussten und unabhängigen Organisation zu sein.
«Wir wollten beim Start von Neue Narrative eine Organisation mit Prozessen und Strukturen entwickeln, die bewusst nicht grosse Egos incentivieren», erklärt Co-Gründer Martin Wiens im Gespräch. Nach zwei Jahren ist das Gründungsteam von 3 Personen auf 15 Personen angewachsen.
Seit Juli 2020 ist Neue Narrative ein Unternehmen in Verantwortungseigentum. «Wir stehen aktuell an der Schwelle zur nächsten Entwicklungsstufe», sagt Martin Wiens. Denn das Team hat sich neben der regelmässigen Magazin-Produktion – übrigens bewusst ohne Vertrieb am Kiosk – zum erklärten Ziel gesetzt, einen Verlag der Zukunft zu bauen. Das Rezept dazu: Eine grosse Prise egofreie Unternehmenskultur, moderne Strukturen und agile Prozesse. Doch wie sieht dies im Redaktionsalltag aus?
Wie ein Strategieprozess zum Leben erweckt wird
Kern der Unternehmenskultur von Neue Narrative ist ein regelmässiger Prozess, in welchem die Mitarbeiter:innen das «Wie» und «Was» der gemeinsamen Arbeit reflektieren. Das Team hat sich auf 3 strategische Ziele geeinigt:
- Neue Wachstumskanäle machen uns unabhängig.
- Wir wachsen zu einem dezentralen Digitalverlag.
- Wir knacken die 1 Mio. Jahresumsatz.
Diese Ziele hat das Team in der OKR-Logik in messbare und zielgerichtete Projekte übersetzt. Wöchentlich wird im Team über Updates dieser Projekte gesprochen. Dabei wird laufend die Weiterentwicklung überprüft. Zudem hat eine fix im Team zugeordnete Rolle der Strategie-Facilitation die Aufgabe, die Ausrichtung ständig im Blick zu haben und wo nötig, die Strategie fortlaufend anzupassen.
Generell arbeitet das Team mit vielen standardisierten Prozessen. «Damit können wir zum Beispiel Sitzungen effizienter führen, uns individuell auf Themen vorbereiten und schneller Entscheidungen fällen.»
Weshalb eine 70:30-Regel mehr Eigeninitiative ermöglicht
Neben diesem Prozess hat das Team eine «70:30»-Regel eingeführt. Martin Wiens erklärt: «Wir streben an, dass wir alle mindestens 70 Prozent unserer Arbeitsenergie auf Sachen verwenden, auf die wir uns gemeinsam geeinigt haben. Bleiben also immer noch 30 Prozent für Projekte und verrückte Ideen, die man aus Eigeninitiative starten will.»
Eine der wichtigsten Komponenten für die Zusammenarbeit bei Neue Narrative ist das Arbeiten mit sogenannten «Spannungen». Jede Person kann laufend in einem geteilten Notion-Dokument eine solche «Spannung» erfassen.
Spannungen können Geschehnisse, Beobachtungen oder sonstige Themen sein, welche die anderen Team-Mitglieder ebenfalls betreffen. Hierbei wird unter anderem zwischen dem reinen Austausch von Informationen, einem Stimmungsabgleich («Resonanz einholen») und dem Anfordern von To-dos oder Projekten unterschieden.
Wie ein agiler Redaktionsprozess funktioniert
Nach einer ähnlichen Logik hat das Kollektiv den redaktionellen Magazin-Prozess aufgebaut und sich der agilen Scrum-Methodik bedient. Die Phasen zwischen Heft-Planung, Auftragsvergabe, Lektorat, Layout und Publikation hat das Team in 10 Sprints aufgeteilt. Jeder Sprint hat seine eigene Bestimmung (z.B. jeder Text hat einen präzisen Teaser; wir haben im Sparring für jeden Text eine klare Struktur entwickelt; 80-Prozent-Version ist fertig geschrieben und im Lektorat; …) mit unterschiedlicher Zeitdauer.
Bereits vor dem Start in den ersten Sprint steht die grobe Struktur des Magazins fest. Im Kickoff-Meeting sammelt das Team also Themen und mappt diese auf bereits feststehende Formate (z.B. zwei Essays, vier Tools, drei Guides …). Darüber will das Team sicherstellen, dass der Rhythmus des Magazins stimmt und es sich am Ende im besten Fall wie ein richtig guter Workshop anfühlt.
Nebst den Sprints hat das Team auch die Logik der User-Story für sich adaptiert: Jeder Text entspricht einer User-Story, die nach klar festgelegten Regeln formuliert und getrackt wird. Damit eine Story von einem Sprint in den nächsten weitergegeben werden kann, müssen klar definierte Tasks erledigt worden sein. Dieses Vorgehen sorgt für umso mehr Transparenz und Messbarkeit der Resultate.
Wie Artikel bei Neue Narrative entstehen
Nach dieser Logik funktioniert auch die Auftragsvergabe an eine:n Autor:in. Bevor sich ein:e Journalist:in ans Schreiben eines Textes macht, werden stets ähnliche Kriterien geklärt:
- Welcher Purpose verfolgt der Text?
- Welchen Nutzwert soll der Text liefern? (angelehnt an die Content-Clusterung von Buzzfeed: hilft mir bei der Lösung eines konkreten Problems; hilft mir dabei, die Welt neu zu denken; Info, die ich teilen möchte; ich fühle mich verbunden; Selbsterkenntnis & Entwicklung anstossen)
- Definition eines Sparring-Partners aka Editors
- Definition des Formats (Guide, Essay, Kolumne, Tool)
- Klare Länge des Textes
- Zeitpunkt für die Übergabe ans Lektorat
- Kostendach
«Ein solches Vorgehen funktioniert sicherlich nicht für jede:n Autor:in, zu unserem Team passt es aber gut. Die Struktur hilft uns dabei, nicht erst über den fertigen Inhalt zu sprechen, sondern schon die Schritte dorthin transparent zu machen. Das macht Ego-Alleingänge unwahrscheinlicher und führt unserer Erfahrung nach fast immer zu besseren Ergebnissen», erklärt Martin Wiens.
Wie journalistische Qualität incentiviert wird
Passend zum Magazinprozess werden die freien Autor:innen bei Neue Narrative nicht nach Quantität (resp. Zeilen) bezahlt, sondern nach ihrer investierten Zeit. «Der Incentive soll sein: “Du wirst für gute Arbeit bezahlt und nicht für die Menge des Geschriebenen”. So wollen wir auch die Anreize für mehr Transparenz im Schreibprozess setzen», so Martin Wiens.
Klar, werde am Anfang gemeinsam ein ungefähres Kosten- resp. Stundendach definiert. Autor:innen sollen frühzeitig ein Zeichen geben, falls sie merken, dass die Geschichte aus Zeit- oder sonstigen Aufwandsgründen nicht realistisch umsetzbar ist. Dann wird der Deckel nach oben angepasst. Denn auch hier gilt ganz der Philosophie des Magazins: Selbstorganisation und Vertrauen stehen über allem.
Was grosse Redaktionen von Neue Narrative lernen können
Im exklusiven Audio-Gespräch beantwortet Martin Wiens ausserdem, welche Tipps er nach 2 Jahren Aufbauarbeit eines redaktionellen Startups anderen Organisationen rät und weshalb das Arbeiten mit geklärten Rollen auch für grosse Redaktionen von Vorteil sein kann.
Gespräch als Audio-Stream
Gespräch als Video-Stream
Fragen? Andere Beispiele?
Was denken Sie über das Modell von Neue Narrative? Wäre diese Art der Selbstorganisation auch in Ihrem Unternehmen anwendbar? Kennen Sie andere Organisationen, die ähnliche Modelle der Zusammenarbeit leben? Lassen Sie es mich gerne wissen, indem Sie die untenstehende Kommentar-Funktion nutzen oder mir auf einem anderen Kanal eine Nachricht zukommen lassen. Ich freue mich!
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