Die grösste Innovation im Medienbereich nennt sich Verzicht

Immer mehr mit immer weniger Mitteln. Die meisten Redaktionen haben heute nur noch einen Bruchteil der Mitarbeiter:innen und Ressourcen, die früher™️ zur Verfügung standen. Zugleich verlangen immer neue Plattformen und Technologien nach immer neuen Formaten und Inhalten. Verzicht und Priorisierung sind dabei die Zauberwörter, um diesem Teufelskreis zu entkommen. Doch oft ist dies leichter gesagt als getan.

Deshalb folgen hier einige Strategien, wie es mit dem Nein-Sagen trotzdem klappt – und dieses Bestreben nicht nur in absurden und unverständlichen Sparmassnahmen endet.

Weshalb wir nicht gerne verzichten

Spätestens seit den vergangenen Monaten haben wir (man lese: in der privilegierten westlichen Welt) am eigenen Leib erlebt, wie sich bewusster Verzicht anfühlt: Für Viele war es eine Mischung zwischen Verlust, Vermissen und aber auch Befreiung.

Befreiung deshalb, weil sich plötzlich Werte verschoben. Im Privaten gelang dies vielleicht, indem man darauf verzichtete, sich ständig mit anderen zu vergleichen. Dieser (erzwungene) Verzicht lässt sich auch auf das Business-Umfeld übertragen: Wer ständig «nur» dem Marktumfeld hinterher springt, verliert schnell den Blick fürs Wesentliche.

Ursprung dessen ist unser Urstreben nach Sicherheit und Kontrolle. Je unsicherer die Zukunft, desto stärker versuchen wir, diese zu planen. Konkret wollen wir aus Trends und Bewegungen der Mitbewerber eigene Strategien ableiten, in der Hoffnung, damit die Zukunft in unserem Sinne beeinflussen zu können. Das hat weniger mit Agilität und Innovation zu tun, sondern in erster Linie mit fehlendem Vertrauen in die eigenen Prozesse und Fähigkeiten, auch mit Unvorhergesehenem umgehen zu können.

Dazu kommt ein weiterer Aspekt, der den Verzicht erschwert und nicht unterschätzt werden darf: Nein-Sagen ist unpopulär. Neues wird gefeiert. Bestehendes abzuschaffen, gleicht hingegen einem Versagen. Mal ehrlich: Kennen Sie eine Führungsperson, die in der Öffentlichkeit für ihren bewussten Verzicht gelobt wurde? Wer schreibt tatsächlich in seine Linkedin-Bio «Verzichter:in», «Kürzer:in» oder gar «Totengräber:in»? Vielmehr wollen wir uns als «Ermöglicher:in», «Innovator:in» oder «Erfinder:in» präsentieren.

Experiment: Weshalb unser Gehirn darauf trainiert ist, eher etwas hinzuzufügen, als etwas wegzunehmen.

Es ist höchste Zeit, dass wir uns stärker mit dem bewussten Verzicht auseinandersetzen. Egal ob neue Paid-Strategien, Newsletter-Tools oder Podcast-Ideen: Die grösste Innovation im Medienbereich nennt sich aktuell Priorisierung, Fokussierung und Verzicht.

Wert und Differenzierung sichtbar machen

Beginnen wir mit den Basics: Um sich von unnötigem Ballast trennen zu können, brauchen wir erstmal einen Überblick. Ganz nach Marie Kondōs Zauberformel: Nur Schritt für Schritt gelangen wir ans Ziel.

Im Business-Umfeld helfen folgende Fragen bei der Analyse der Ausgangslage: Welche Angebote und Produkte schaffen tatsächlich Wert? Welche Inhalte werden stark mit der Marke in Verbindung gebracht? Wo gibt es Differenzierungsmerkmale am Markt, die andere nicht abdecken können?

Diese Auslegeordnung kann erstmal ohne grossen Aufwand zum Beispiel mittels qualitativer Umfragen bei den eigenen Nutzer:innen durchgeführt werden. Doch auch eine interne Perspektive kann helfen, um Unnötiges im Alltag sichtbar zu machen. Fragen Sie Ihre Mitarbeiter:innen ganz konkret: «Welche Arbeiten machen Sie, von denen Sie glauben, dass es keine gute Verwendung der eigenen Arbeitszeit ist und warum?»

Echte Kosten eines «Ja» aufdecken

Bevor Sie ein neues Projekt starten (lassen), halten Sie kurz inne. Bestimmt haben Sie die Kosten des Projektes abgeschätzt, vielleicht sogar mit entsprechenden Ressourcen hinterlegt. Doch haben Sie sich auch die Frage gestellt, wer neben der Initialisierungsphase auch den Betrieb finanziert? Bereits oft beobachtet: Für die Initialisierung einer Idee wird zum Teil viel (Innovations-)Geld gesprochen, doch spätestens für die Überführung des Projektes in den Regelbetrieb fehlen die Budgets. Was geschieht dann? Denken Sie an diesen Moment, bevor Sie ein Projekt euphorisch aus dem Boden stampfen.

Ähnlich gelagert ist im Übrigen auch der «Multiplikatoreneffekt»: Häufig sind sich Führungskräfte nicht bewusst, dass eine Initiative in einer Abteilung die Ressourcen einer anderen Abteilung beanspruchen könnte. Diese unpriorisierten Aufträge führen schnell zu zusätzlichem Abstimmungsaufwand zwischen mehreren Abteilungen und endet oft in Frust und gegenseitigen Blockaden.

Zombieprojekte eruieren und würdevoll beerdigen

Trägheit trifft die Besten von uns. Normalerweise tun wir uns eher schwer, Neues anzupacken. Doch die gleiche Trägheit kann sich auch auf das Anhalten von Dingen beziehen. Manchmal ist es einfacher, Dinge wie bisher weiter laufen zu lassen, als einen Weg oder einen guten Grund zu finden, sie zu stoppen.

Wir alle kennen «Zombieprojekte». Es handelt sich dabei um «gehende Untote», die langsam dahinschlurfen, aber nirgendwo ankommen. Solche Projekte vergeuden Ressourcen, binden unnötig wertvolles Know-How und verzögern interne Prozesse. Was dagegen hilft: Die Einführung einer «Zombie-Amnestie». Dies erlaubt Mitarbeiter:innen zuzugeben, dass ihre Idee bereits seit einiger Zeit vor sich hinvegetiert, ohne dass sie eine Strafe befürchten müssen. Bei der würdevollen Beerdigung dieser «Zombies» geht es auch darum, den Misserfolg des Projekts von den Beteiligten zu trennen und stattdessen zu analysieren, was getan werden kann, um künftig ähnliche Situationen zu verhindern.

Angebot nach Strategiezielen ausrichten

Verzicht bedeutet in erster Linie Fokussierung und Priorisierung. Zu jeder guten Strategie gehören deshalb nicht nur Wachstums- und Potentialfelder, sondern im gleichen Masse auch Verzichts- und Abbaumassnahmen. Haben Sie die ersten drei oben stehenden Empfehlungen bereits absolviert, ist es nun an der Zeit, klare Ziele zu formulieren und sämtliche Aktionen und Massnahmen diesen Zielen auszurichten.

Das heisst konkret: Haben Sie sich zum Beispiel als Ziel eine höhere Nutzerbindung gesetzt, so können Sie mit gutem Gewissen auf Eintagsfliegen und Clickbait-Inhalte verzichten. Wollen Sie den Austausch mit der Community stärken, so sollten Sie auf rein informierende und abgeschlossene Inhalte verzichten, die keine Möglichkeit zur Interaktion zulassen. Je nach gesetztem Ziel fällt der Verzicht unterschiedlich aus. Doch eines bleibt gleich: Ohne Verzicht findet keine Fokussierung und damit auch keine echte Positionierung am Markt und bei der Wahrnehmung der Nutzer:innen statt.

Weniger ist mehr: Diese Tools helfen bei der strategischen Verzichtsplanung

Hier finden Sie eine Anleitung und Tools, um in Ihrer Organisation den Verzicht auf Angebote strategisch anzugehen. → zum Artikel

Beispiel aus der Praxis

Wie Verzicht im Newsroom-Alltag gelebt werden kann, macht die US-amerikanische Tageszeitung «Milwaukee Journal Sentinel» seit einigen Jahren vor. Die Zeitung mit einer täglichen Auflage von rund 220’000 Exemplaren hat eine laufend aktualisierte Verzichtsliste erstellt. Darauf werden Aktivitäten gesammelt, die nicht zur nutzerzentrierten Strategie beitragen, um Zeit und Ressourcen für sinnvollere Aufgaben zu finden.

Lesen Sie hier, welche Erfahrungen das Team bei diesem Vorgehen gemacht hat.

Verzicht als Innovation: Wie die US-amerikanische Tageszeitung «Milwaukee Journal Sentinel» bewusst eine Verzichtsliste führt.

Kennen Sie Beispiele, bei welchen dank Verzicht ein besseres Produkt entstanden ist? Lassen Sie es mich gerne wissen, indem Sie die untenstehende Kommentar-Funktion nutzen oder mir auf einem anderen Kanal eine Nachricht zukommen lassen. Ich freue mich!

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