Praxisbeispiel: Wie sich die ARD zum digitalen Content-Netzwerk entwickeln will

Es ist keine leichte Aufgabe: Wie kann aus einem föderalistisch organisierten Senderverbund ein digitales Content-Netzwerk entstehen? Dieser Herausforderung müssen sich aktuell nicht nur viele Verlagshäuser mit Regionalausgaben stellen, sondern auch die ARD. 

Der Senderverbund steckt aktuell in seiner grössten Transformation seit seiner Gründung 1950. Um diesen Wandel erfolgreich meistern und die grossen Zukunftsfragen beantworten zu können, hat die ARD in den letzten Jahren eine Digitalagenda lanciert. Darin wurden fünf Bereiche mit strategischer Priorität definiert. Zu diesen «Big 5» gehören die ARD-Mediathek und die ARD-Audiothek sowie tagesschau.de, sportschau.de und kika.de.

Die Big Five der ARD: Mediathek, Tagesschau, Sportschau, Audiothek, Kinderkanal.

Zudem wurde gerade Ende dieser Woche ein ganzes Reformpaket mit unterschiedlichen strategischen Massnahmen zur Neuausrichtung der ARD an den Start gebracht.

Erste Ergebnisse dieser strategischen Priorisierung werden bereits seit einigen Monaten sichtbar. So kommt zum Beispiel eine jüngste Nutzungsanalyse zum Schluss, dass sich die ARD im Streaming-Bereich nicht länger hinter Netflix verstecken muss. 

Mit dezentraler Fachführung überzeugen

Dies ist vor allem auch dem ehemaligen funk-Geschäftsführer und unterdessen stellvertretenden ARD-Programmdirektor Florian Hager und seinem Team zu verdanken. In kurzer Zeit hat Florian Hager um sich ein Team von Spezialist:innen aus unterschiedlichen Medienhäusern geschart, die jetzt mithelfen, die digitale Präsenz der ARD und ihren Landesrundfunkanstalten noch stärker zu prägen. 

Porträt von Jonas Schlatterbeck, Head of Content bei der ARD Mediathek.
Jonas Schlatterbeck, Head of Content bei der ARD Mediathek.

Eines dieser Team-Mitglieder ist Jonas Schlatterbeck, Head of Content bei der ARD Mediathek. Was erstmal gross klingt, hat vor allem mit viel Überzeugungsarbeit und dezentraler Fachführung zu tun. In seiner Funktion begleiten Jonas und seine Teams die Inhalte, die für die Mediathek bestimmt sind, von der Konzeption bis zur Auswertung: «Wir stellen selbst keine Inhalte direkt her, sondern beraten Redaktionen bei der Formatierung, planen das non-lineare Portfolio und kuratieren alle Ausspielwege der Mediathek», erklärt Jonas Schlatterbeck. 

Distribution auf Eigen- und Drittplattformen

In dieser Funktion ist Jonas Schlatterbeck seit etwas mehr als einem Jahr tätig. Zuvor arbeitete er bei ZDF Digital als Head of Social und fokussierte sich in erster Linie auf Drittplattformen. Der Wechsel sei für ihn ein intensives Lehrjahr in puncto Unternehmensstrategie, Funktionsweisen von Streaming-Plattformen und Entscheidungsfindung gewesen. 

Ein Learning ist ihm dabei besonders in Erinnerung geblieben:

Heutzutage muss man in der Distribution von Medieninhalten Social und proprietäre Plattformen zusammendenken, um neue Zielgruppen zu erreichen.

Jonas Schlatterbeck, Head of Content bei der ARD Mediathek

Ausserdem habe er mitgenommen, dass «die Distribution bereits während der Produktion eines Formats mitgedacht werden muss – sowohl Assets als auch Promotion-Kanäle», ergänzt Jonas Schlatterbeck.

Zeitgleich wurden in den ARD-Gremien auch neue Empfehlungen für die Distribution von Inhalten auf Eigen- vs. Drittplattformen ausgesprochen. Die ARD hat sich hierzu auf eine Genre-spezifische Einteilung der Inhalte geeinigt. Damit will man künftig die unterschiedlichen Plattformen einander ergänzend einsetzen und zugleich die eigenen «Big 5» strategisch stärken.

Meilenstein für die digitale ARD

Seit Anfang Oktober ist Jonas Schlatterbeck nun in Co-Leitung auch für die integrierte Programmplanung (linear und non-linear) für Das Erste und die ARD Mediathek zuständig. Mit diesem Wechsel innerhalb der ARD-Programmplanung sei der digitale Ausspielweg der «Mediathek» erstmals planerisch auf Augenhöhe mit dem linearen Channel «Das Erste» gehoben worden. Ein Meilenstein für die digitale Transformation der ARD. 

«Wir tragen damit der Entwicklung Rechenschaft, dass sich das Sehverhalten immer stärker in Richtung Mediathek verlagert und eine ebenso durchdachte und ausgeklügelte Sendeplanung benötigt», ergänzt Jonas Schlatterbeck. Ausserdem könne man in dieser Doppelspitze viel stärker den Inhalt in den Mittelpunkt stellen und davon ausgehend bewerten, zu welchem Channel dieser Inhalt am besten passe.

Mit diesem Schritt wird allerdings auch deutlich, dass sich die ARD im Digitalen länger je mehr zu einem digitalen Content-Netzwerk wandelt. Statt Senderplanung steht heute die Portfolio-Denke im Zentrum. Was heisst das konkret?

«Wir sind traditionell eine Sender-Mediathek, die TV-Sendungen Online first und im Catch-Up bereithält. Wir haben uns aber auf den Weg gemacht, einen weiteren Katalog aufbauen, der Streamern den Einstieg in unsere Plattform erleichtert und der losgelöst von der Funktion Sendung verpasst funktioniert. Dieser soll aus eigenständigen, non-linearen Inhalten bestehen und in erster Linie eine jüngere Zielgruppe ansprechen, bei der wir noch starke Wachstumspotenziale sehen», erklärt Jonas Schlatterbeck.

Wie die ARD Mediathek kuratiert wird

Dabei treibe die Teams vor allem die Frage um, wie man diese beiden Systeme auf einer Plattform stattfinden lassen könne, ohne dabei die Nutzer:innen zu verwirren. Um diese Herausforderung zu lösen, entschied sich das Team für eine grobe Unterscheidung der Inhalte in zwei Kategorien: markenbildende und markenbindende Formate. Darauf basierend werden Inhalte in der Mediathek kuratiert.

Markenbildung oder Markenbindung? Diese vereinfachte Kategorisierung der ARD-Mediathek-Inhalte soll bei der Orientierung und Kuratierung behilflich sein.
Markenbildung oder Markenbindung? Diese vereinfachte Kategorisierung der ARD-Mediathek-Inhalte soll bei der Orientierung und Kuratierung behilflich sein.

Um diese Kuratierung innerhalb der ARD Mediathek zu verbessern, hat das Team sowohl die Benchmark einschlägiger Streaming-Anbieter als auch das eigene Portfolio analysiert und mit einer Business Intelligence auf Muster in der Nutzung hin überprüft. Dabei ist ein Katalog mit folgenden Bewertungskriterien entstanden: Genre-Diversität, Fit für eine jüngere Zielgruppe, qualitativ hochwertige Assets, Exklusivität für die eigene Plattform, Mindestverweildauern, Videolängen und Serialität.

Vieles könne man dabei auch von Netflix und Co. lernen, ist Jonas Schlatterbeck überzeugt. «Ob Player-Funktionalitäten, Recommendation-Systeme oder Suchmaschinen: Die Streaming-Anbieter haben neue Standards gesetzt in der User Experience und in der Plattform-Ergonomie, an denen wir uns orientieren können.»

Sich mit gebündelten Angeboten inhaltlich differenzieren

Trotzdem ist sich Jonas Schlatterbeck auch sicher, dass sich öffentlich-rechtliche Medienhäuser vor allem inhaltlich von grossen Streaming-Anbietern stark absetzen sollten: «Durch unsere fundierten Recherchen können wir deutlich relevanter und tiefgründiger agieren.»

Jonas Schlatterbeck bezeichnet sich denn auch selbst als Optimist. Deshalb sehe er die ARD in zwei bis drei Jahren als non-lineares Powerhouse, das es verstanden hat, seine föderale, publizistische Kraft im Video- und im Audiobereich auf starken Plattformen zu bündeln. «Die ARD wird ein zeitgemässes Vollangebot für alle Genres, Themen und Zielgruppen aufgebaut haben, das personalisiert ausgespielt wird, gesellschaftliche Debatten anstösst und ein wichtiger Teil des Relevant Sets auf dem Streaming-Markt ist.»

Fragen? Eigene Erfahrungen?

Welche Erfahrungen haben Sie mit dezentraler Führung gemacht? Kennen Sie Unternehmen, die sich aktuell in einem Transformationsprozess befinden und mit guten Beispielen eine neue Arbeitskultur entwickeln? Lassen Sie es mich gerne wissen, indem Sie die untenstehende Kommentar-Funktion nutzen oder mir auf einem anderen Kanal eine Nachricht zukommen lassen. Ich freue mich!

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