Praxisbeispiel: Wie der Beobachter die digitale Transformation meistert

Bald 100-jährig. Stets als kritische Stimme im Auftrag der Leserschaft. Mit einer Reichweite von 583’000 Leser:innen eines der meistgelesenen Magazinen in der Schweiz: Der Beobachter ist eine zweiwöchentliche Konsumenten- und Beratungszeitschrift – und seit 1995 auch eine digitale Plattform. Als eine der ersten Zeitschriften in der Schweiz hat der Beobachter bereits in den 90er-Jahren eine Internetpräsenz lanciert.

Dennoch steht auch der Beobachter vor grossen Herausforderungen: Die Leserschaft nimmt laufend ab, das bisherige Geschäftsmodell basierend auf Abo- und Werbeeinnahmen schwindet. Obwohl der Verlag – bis vor Kurzem ein Joint Venture von Ringier und Axel Springer – in den vergangenen Jahren auch mit anderen Geschäftsmodellen experimentierte, ergaben sich daraus nur bedingt neue Wachstumsfelder. 

In diesem Artikel möchte ich den aus meiner Sicht sehr konsequenten und überzeugenden Transformationsprozess des Beobachter in 8 Schritten nacherzählen. Zur Transparenz: In den vergangenen drei Jahren durfte ich als Strategieberater die verschiedenen Teams des Beobachter bei gewissen Prozessschritten beratend begleiten.

One-Beobachter-Strategie als Antwort auf die Digitalisierung

Abnehmende Print-Leserschaft, schwindende Einnahmen – Gründe genug, um die Transformation konsequent anzugehen: Seit 2021 hat die Geschäftsleitung und Chefredaktion des Beobachter einen konsequenten Change-Prozess eingeleitet. Im Zentrum steht ein neues – klar publizistisch ausgerichtetes – Geschäftsmodell, geprägt durch die drei Säulen «Berichten, Beraten, Bewegen». 

Aus einer zuvor dualen Strategie (getrennte Strategien für die Digitalisierung von Beratung und Publizistik) entschied sich die Verlagsleitung für eine One-Beobachter-Strategie mit einer Mission für den ganzen Beobachter, d.h. für sämtliche rund 100 Mitarbeitenden des vielseitig aufgestellten Unternehmens. Der Beobachter bündelt die drei Bereiche Berichten-Beraten-Bewegen in einem (publizistischen) Produkt. Die Inhalte werden neu digital first geplant und produziert und erst in einem zweiten Schritt fürs Print-Magazin aufbereitet. 

Visualisierung: Aus einer dualen Strategie wird die One-Beobachter-Strategie.
One-Beobachter-Strategie: Einheitliche strategische Fokussierung für sämtliche Produkte mit drei gleichwertigen Angebotssäulen.

Was hat es mit den drei Säulen konkret auf sich? Ins Zentrum des Markenkerns wurde der unbestechliche, anwaltschaftliche Journalismus gestellt. Mit dieser Ausrichtung werden die Themen und Herangehensweisen definiert. Darüber hinaus will der Beobachter weiterhin kompetente Rechtsberatung anbieten und engagiert sich auch überparteilich auf politischer Ebene.

Das ist bei weitem nicht neu: Bereits in den 70er-Jahren lancierte das Magazin eine Volksinitiative, die später den Weg für das erste Schweizer Opferhilfegesetz bereitete. Vor diesem Hintergrund erstaunt es auch nicht, dass der Beobachter sein Bezahlmodell bewusst «Mitgliedschaft» und nicht Abo nennt.

Die Chefredaktion des Beobachters: Andreas Thut, Dominique Strebel, Katrin Moser, Sven Broder und Lena Berger (v. l.)

Aber wozu war schliesslich eine Transformation notwendig? Beobachter-Chefredaktor Dominique Strebel – seit Mai 2021 in diesem Amt – beschreibt es so: «Es geht mir nicht darum, das Produkt neu zu erfinden. Vielmehr ist meine Aufgabe, das Bestehende besser ‘raus zu putzen’ und auf die Digitalität hin neu zu denken. Der Brand war da, aber man muss wieder erkennen können, was der eigentliche USP des Beobachter ist.»

Konkret ging es darum, bei den drei gleichgestellten Angebotssäulen «Berichten, Beraten, Bewegen» einen strategischen Fokus zu finden. Genau dies spiegelt sich im neuen Angebot des Beobachter wider. Statt mit dem Mahnfinger zu berichten, will der Beobachter künftig die Leserschaft stärker inspirieren und mit Beratungsleistungen in ihren Alltagsfragen unterstützen. 

Tabelle mit einer Übersicht der wichtigsten strategischen Entscheide, um die One-Beobachter-Strategie umzusetzen.
Präsentation zum Verwaltungsrats-Beschluss im September 2022: Beobachter ist mehr als nur ein Brand – was sich mit der One-Beobachter-Strategie alles geändert hat.

Gleichzeitig ist der Beobachter dank der Publizistik mehr als nur eine Rechtsschutzversicherung, bei welcher man ein einmaliges Problem löst und später nicht mehr zurückkommt. Die journalistischen Inhalte sollen im besten Fall eine Ritualisierung in der Nutzung auslösen und zur Loyalität beitragen. 

Schritt 1: Zielgruppen kennenlernen und Nutzungsbedürfnisse analysieren

Wie wurde dies konkret umgesetzt? Um den künftigen Fokus zu definieren, setzte sich das Beobachter-Team intensiv mit den eigenen Nutzer:innen auseinander. Da der Beobachter den Kontakt zu den eigenen Kund:innen bereits seit Jahren als Teil seiner DNA verstand, konnte bei diesem Prozess auf eine Vielzahl von Nutzer:innen-Rückmeldungen zurückgegriffen werden. 

Alleine im Jahr 2021 führte das juristische Team des Beobachter 46’000 juristische Beratungen durch, nahm 1000 Anrufe entgegen und an die Redaktion wurden 600 Briefe gesandt. Kern der Rückmeldungen war, dass die Nutzer:innen vor allem die objektiven und konsolidierten Informationen, die gut recherchierten und verständlichen Einschätzungen zu Rechtsfragen, aber auch das Aufdecken von Missständen schätzen.

Schritt 2: OKR-Methodik als Basis für den Innovationsprozess etablieren

Gemeinsam mit der Geschäftsführung der Beobachter-Gruppe unter der Leitung von Michael Moersch führte das Team im Oktober 2022 die OKR-Methodik ein. Rückblickend sei dies ein entscheidender Moment bei der Transformation des Unternehmens gewesen, erinnert sich Dominique Strebel. «Es half, dass Michael Moersch alle Bereiche aus einer Hand leitete und für Innovationsprozesse brennt. Für das Gelingen der digitalen Transformation war es essentiell, dass eine Person alle Fäden in der Hand hielt.» Dadurch konnte eine stringente, enge Linienorganisation für die Produktion und zugleich eine agile und auf der OKR-Methodik aufbauende Organisation für den Innovationsprozess etabliert werden.

Die OKR-Methodik wies sich denn auch als Erfolgsfaktor zum Einbezug der Belegschaft. So konnte innerhalb des gesamten Unternehmens ein digitales Mindset etabliert werden, da rund zwei Drittel der Belegschaft in aktiven Rollen und in interdisziplinär zusammengestellten Projektteams in den Prozess eingebunden waren. «Das befruchtete sich gegenseitig extrem und motivierte die Redaktionspersonen zur Produktdenke. Die Mitarbeitenden entwickelten eine grosse Lust aufs Machen und sahen sich plötzlich als Teil des Gesamtproduktes», erklärt Dominique Strebel. Unterdessen wurden die Innovationsprojekte auf Basis der OKR-Methodik wieder etwas reduziert, doch das Mindset blieb erhalten.

Schritt 3: Prozesse konsequent konvergent ausrichten

Gleichzeitig wurde die Redaktion konvergent aufgestellt und damit einhergehend neue Abläufe implementiert. Neue Personen stiessen zur Chefredaktion – ebenbürtige Online- und Print-Blattmacher:innen sowie die Funktion der Chefin vom Dienst eingeführt. Es ist auch der Zeitpunkt, zu welchem Andreas Thut, damals Editorial Head of Product, und Dominique Strebel ein neues Newsdesk etabliert haben, um den digitalen Auftritt des Beobachter aus der Perspektive von Recht und Gerechtigkeit aktueller zu gestalten. 

Statt ein fixes Digital-Team aufzubauen, wurde ein System installiert, bei welchem jeweils 4-5 Leute im Turnus aus den Hintergrund-Ressorts für jeweils 4-8 Wochen am Newsdesk arbeiten. Obwohl dieses System anfangs nicht nur auf Gegenliebe in der Redaktion stiess, entpuppte es sich doch indirekt zu einem erfolgreichen Konverenz-Change-Projekt. Schritt um Schritt wurden die Journalist:innen aus den Hintergrund-Ressorts digital fit gemacht und entwickelten dadurch Freude an der kurzfristigen und in sich abgeschlossenen Arbeit am Newsdesk. Wichtig für die ganze Transformation war auch, dass die Produkt-Verantwortlichen (Andreas Thut, Editorial; Mike Herter, Produktentwicklung) die Brücken zwischen Redaktion und Product sowie Tech optimal koordinierten. 

Schritt 4: User-Needs-Modell zur Fokussierung und Auflockerung der Publizistik einführen

Viel war in den letzten Jahren von Nutzerorientierung im Journalismus die Rede. Die technologischen Veränderungen zwangen dazu, dass sich Medieninhalte verändern mussten. Neue Plattformen verlangten nach neuen Storytelling-Formen. Doch auch unmittelbares Feedback der Nutzer:innen führte zu Veränderungen bei journalistischen Formaten – Transparenz und Rechenschaftspflicht wurde sichtbarer. In diesem Zusammenhang entwickelte die BBC bereits 2017 ein sogenanntes User Needs Model.

Visualisierung mit den wichtigsten User-Needs des Beobachter.
Wissen, verstehen, tun und fühlen: Die Grundbedürfnisse von Nutzer:innen – adaptiert für den Beobachter.

Der Beobachter hat diese Methodik genutzt, um das eigene publizistische Angebot zu fokussieren und gleichzeitig aufzulockern. Zum Start im Herbst 2022 wurden rückwirkend sämtliche Artikel der vergangenen sechs Monate analysiert und den Bedürfnis-Kategorien zugeteilt. Nach einem sechsmonatigen Testdurchlauf wurden diese eingedeutscht und auf die Beobachter-Realität angepasst. In einem weiteren Schritt entwickelte die Redaktion abgeleitet von den Nutzungsbedürfnissen auch ein Kanalkonzept. In diesem wird der Umgang mit den verschiedenen Drittplattformen definiert und mit einem Mengengerüst (Kadenz, Publikationsrhythmus) hinterlegt.

Schritt 5: Print-Magazin evolutionär statt revolutionär weiterentwickeln

Ein erster grosser Schritt der Transformation des Beobachter wird im Februar 2023 für die Leser:innen sichtbar. Zu diesem Zeitpunkt wird das neu gestaltete Print-Magazin erstmals publiziert. Ab sofort soll der strategische Dreiklang aus Berichten, Beraten und Bewegen auch in der Zeitschrift abgebildet werden. Das geschieht zum einen über ein stringentes Farbkonzept (Berichten in Weiss, Beraten in Grün, Bewegen in Blau), aber auch über klare Zuteilung von visuellen Elementen. So wird im Berichten-Teil in erster Linie mit Fotos gearbeitet, im Beraten-Teil mit Illustrationen und im Bewegen-Teil mit auffälliger Typografie.

Berichten, beraten, bewegen: Mit dem Relaunch des Magazins wird der strategische Dreiklang erstmals gegen Aussen sichtbar.

Später wird die Logik auch im digitalen Angebot fortgeführt. Auch hier spielt die neue Farbgestaltung eine wichtige Rolle, um den Nutzer:innen mehr Orientierung bieten zu können.

Das klare Farbkonzept soll im Digitalen für mehr Orientierung sorgen.

Schritt 6: Mit einer Stimme für den Beobachter sprechen

Neben der visuellen Klarheit (umgesetzt von den Infografikerinnen Anne Seeger und Andrea Klaiber sowie der Creative Director Berit Bisig) wird schnell klar, dass auch die Ansprache des Beobachter überarbeitet werden muss. Um neue digitale Angebote zu lancieren, investiert der Beobachter ab April 2023 auch stärker in einen einheitlichen Beobachter-Sound. «Der Sound und das Visuelle hilft im Digitalen, um Angebote besser bündeln zu können. Es war ein glücklicher Zufall, dass mit Oliver Fuchs eine entsprechende Person auf dem Markt war und wir ihn zu uns holen konnten», erklärt Dominique Strebel. 

Als Projektleiter Mitgliederansprache hat Oliver Fuchs eine wichtige Brückenfunktion zwischen Marketing und Redaktion inne und ist zuständig für die Interaktion mit den Leser:innen – und zwar auf sämtlichen Kanälen. So hat Oliver Fuchs in den ersten Monaten viel in eine neue redaktionelle Transparenz investiert, das Newsletter-Portfolio stark ausgebaut. Daraus ergab sich eine neue Leser:innen-Ansprache, die später auch die neue Homepage und die ab Herbst 2023 prominent platzierte Out-of-Home-Kampagne des Beobachter befruchtete.

Mehr Wiedererkennbarkeit: Der spezifische Beobachter-Sound prägt neu jedes Angebot – bis hin zur Werbekampagne.

Schritt 7: In neue digitale Formate investieren

Schrittweise hat die Redaktion in den vergangenen Monaten auch das digitale Angebot weiter ausgebaut. Statt mit einem Big-Bang aufzuwarten, wurden laufend neue Formate entwickelt, direkt publiziert und mit starkem Analytics-Fokus ausgewertet. Ein erstes dieser Formate ist die Erklär-Rubrik «Hesch gwüsst» (übersetzt: Hast du gewusst?). Hierbei handelt es sich um eine Rubrizierung der Beratungs-Inhalte, welche direkt auf ein klassisches Nutzungsbedürfnis einzahlen sollen: Geld, Zeit und Nerven zu sparen. 

Diese neue Rubrik erlaubt es der Redaktion auch, die Inhalte stärker in Lebensphasen einzuteilen, um das Nutzungsversprechen, besser und smarter durch das Leben zu kommen, einzulösen. Diese Form von Inhalten birgt aufgrund der Möglichkeit zur Nutzungsritualisierung ausserdem ein grosses digitales Potential. Zugleich investierte die Redaktion auch in neue Video- und Social-Media-Formate.

Angebote mit Ritualisierungspotential: Um im Digitalen attraktiver zu werden, wurden neue Formate mit der Möglichkeit zur Rubrizierung entwickelt.

Schritt 8: Pläne für die Zukunft schmieden – und daran glauben

«Jetzt haben wir eigentlich 80% des publizistischen Online-Magazin entwickelt und die Zahl der Digitalmitglieder steigt stetig», erklärt Dominique Strebel im Rückblick auf die vergangenen Monate. Jetzt müsse vor allem die Grundarbeit richtig gemacht und noch stärker fokussiert werden. Damit ist gemeint, stärker auf User Journeys zu optimieren und die Konversionsmöglichkeiten reibungsloser zu gestalten. Nachdem ein starker Fokus auf der Berichten-Angebotssäule lag, steht nun der Beraten-Teil im Vordergrund. Bereits wurde mit dem Familienrechts-Chatbot eine erste KI-Anwendung lanciert, welche eine personalisierte Beobachter-Rechtsberatung rund um die Uhr möglich macht. Ende 2024 / Anfang 2025 will sich das Team dann vermehrt auch um den Bewegen-Teil kümmern.

Vor wenigen Tagen wurde nun die neue Beobachter-App lanciert. Diese beinhaltet nebst den Magazin-Inhalten auch Beratungsangebote und soll sich mittelfristig mit Hilfe von KI-Anwendungen noch stärker zum individuellen Schweizer Taschenmesser für Recht und Gerechtigkeit entwickeln.

Die Ambitionen des Beobachter sind hoch. Bis Ende 2027 will das Unternehmen 25’000 digitale Mitglieder erreichen. Die Story zur Transformation des Traditionsmagazins vermochte zumindest gegen Innen schon viele Leute überzeugen. Ob die Wette in die Zukunft für den Ringier-Verlag aber auch am Nutzer:innen-Markt gewonnen werden kann und sich die Investitionen auszahlen werden, weist sich wohl erst in drei bis vier Jahren.

Fragen? Andere Beispiele?

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