Onlinejournalismus könnte vom Wissen der Masse profitieren

Printjournalismus ordnet ein, bietet ein möglichst vollständiges Abbild des Weltgeschehens und sieht sich selbst als Zeitdokument. Onlinejournalismus ist meist boulevardesk, kurzlebig und vielfach gespickt mit inhaltlichen Fehlern. Leider beherrschen die beiden soeben genannten Vorurteile noch zu oft den Diskurs über einen möglichen Journalismuswandel. Doch es ginge auch anders: Hier ein Praxisbeispiel, wie Journalismus vom Wissen der Masse profitieren könnte.

Dass wir mitten in einem Philosophieumbruch der bislang bewährten Journalismusmodelle stecken, ist unlängst auch in der Schweiz erkannt worden. Medienhäuser versuchen sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, sei es über interne Schulungen (SRF und NZZ), Einstellen von jungem Personal (Tamedia) oder durch eine solide Grundausbildung im eigenen Haus (Ringier). Doch der Philosophiewechsel dauert. Erst in einigen Jahren wird sichtbar werden, welche Strategie die langfristig sinnvollste ist.

Das «Fehlermeldesystem» bei Newsnetz-Seiten.
Das «Fehlermeldesystem» bei Newsnetz-Seiten.

 

Doch es gäbe auch Ideen, welche die Medienhäuser nebenher in ihren Redaktionen umsetzen könnten. David Bauer hat unlängst zehn Ideen für qualitativ besseren Onlinejournalismus formuliert. Ich möchte an dieser Stelle eine elfte, prozessorientierte Idee präsentierte, die man mit einigen technischen Anpassungen bereits heute umsetzen könnte.

Es handelt sich dabei um den Ausbau eines «Fehlermeldedienstes», wie es bei einigen Newsportalen bereits eingesetzt wird.Tamedia integrierte vor einigen Monaten auf sämtlichen Newsnetz-Sites ein Fehlermeldetool. Laut Tamedia-Mediensprecher Christoph Zimmer melden Leser einige dutzend Male am Tag Fehler über dieses Tool.

 

Antwort von Tamedia-Mediensprecher Christph Zimmer, am 19. Mai 2011
Antwort von Tamedia-Mediensprecher Christph Zimmer, am 19. Mai 2011

 

 

Tamedia ist mit diesem Meldesystem Vorreiter in der Schweiz. Und auch deutsche Newsportale bieten eine automatisierte Möglichkeit, inhaltliche wie orthographische Fehler zu melden nur selten an.

NewsportalMeldemöglichkeit?Wie können Fehler gemeldet werden?
Schweiz
20min.chnein
NZZ Onlinenein
Newsnetz/tagesanzeiger.chjavia Hinweis-Formular links neben jedem Artikel
AZ-Medien/aargauerzeitung.chnein
SF Tagesschau/tagesschau.sf.tvnein
Blick.chnein
swissinfo.chnein
suedostschweiz.chnein
landbote.chnein
srdrs.chnein
Deutschland
Financial Times Deutschlandjavia Kontaktformular unterhalb des Artikels (versteckt)
Spiegel Onlinejavia Feedback-Formular unterhalb des Artikels
Frankfurter Allgemeine Zeitungnein
Zeit Onlinenein
sueddeutsche.denein
tagesschau.denein

Stand: Anfang Juni 2011 – Zusammenstellung: kw

 

Doch man könnte dieses «Fehlermeldesystem» noch um einen technischen Schritt und zwar um den sogenannten «Wikipedia-Mechanismus» erweitern:
Fast alle Newsportale versuchen ihre eigene Community aufzubauen, um die Qualität ihrer Kommentare gewzungenermassen zu erhöhen und eine gewisse Transparenz der Leserschaft herzustellen.

NewsportalAnonyme Leserkommentare möglich?Welche Kommentar-Möglichkeiten bestehen?
Schweiz
20min.chjavia 20min-Login oder ohne Login
NZZ Onlineneinvia MyNZZ-Login
Newsnetz/tagesanzeiger.chneinvia Facebook-Login oder mit Wohnadresse
AZ-Medien/aargauerzeitung.chjanur via Mail-Adresse
SF Tagesschau/tagesschau.sf.tvneinvia SF-Login oder via Facebook-Login
Blick.chneinvia Blick-Login oder via Facebook-Login
swissinfo.chjavia Swissinfo-Login oder via Facebook-Login, auch ohne Login
suedostschweiz.chneinvia Südostschweiz-Login
landbote.chneinmit Wohnadresse
srdrs.chnein
Deutschland
Financial Times Deutschlandjavia Online-Leserbrief, den man einschickt
Spiegel Onlinejavia Spiegel Online-Login (spezielles Forum)
Frankfurter Allgemeine Zeitungneinvia Faz-Login
Zeit Onlineneinvia Zeit-Login
sueddeutsche.deneinvia Süddeutsche-Login
tagesschau.deneinvia Tagesschau-Login (spezielles meta.tagesschau.de-Forum)

Stand: Anfang Juni 2011 – Zusammenstellung: kw

Das Benutzerschema von Wikipedia könnte auch auf Newsportale übertragen werden. - Quelle: wikipedia.de
Das Benutzerschema von Wikipedia könnte auch auf Newsportale übertragen werden. - Quelle: wikipedia.de

Deshalb mein Vorschlag an Onlineredaktionen: Bindet eure Leserschaft vermehrt in den Journalismusprozess ein. Baut technische Möglichkeiten, mit welchen sich die User gegenseitig bewerten können (ähnlich dem Sterne-Ratingsystem bei eBay oder den Kommentarevaluierungen bei Wikipedia).

Und nun lasst die Community wirken: Je häufiger ein bestimmter User mit sinnvollen Kommentaren glänzen kann, desto schneller wird er im transparenten Ranking aufsteigen. Nach einer gewissen Zeit erhält der User einen Zugang zum abgespeckten Backend des Newsportals, in welchem er – ganz nach der Wikipedia-Philosophie – Artikel verändern darf und sie zur Überprüfung an einen Onlinejournalisten des Newsportals weiterleitet. Dieser muss die Änderungen zuerst verifizieren, bevor er sie in einem nächsten Schritt freischalten kann. Somit bleibt die Hoheit beim Newsportal und die Angst, es könnten plötzlich dem publizistischen Leitbild nicht entsprechende Artikel online gehen, gebannt.

Klar kann ein solcher Prozess aus der Sichtweise des angestammten Journalismus im ersten Moment mit vielen Unsicherheiten und bestimmt auch mit Mehraufwand verbunden sein. Langfristig allerdings – und davon bin ich fest überzeugt – würde ein solcher Prozesswechsel die Qualität der Inhalte erhöhen und das Involvement der Leserschaft nachhaltig prägen. Dies wiederum könnte dazu führen, dass die Leser ihre Beobachtungen zuerst dem ihnen vertrauten und «offenen» Medium zustecken und das Medienhaus somit zu vermehrt exklusiven Inhalten kommt.

 

Gehe ich mit meiner Idee zu weit oder gibt es womöglich bereits Newsportale, die den vorgestellten Journalismusprozess in ihrer täglichen Arbeit umsetzen? Ihre Meinung und Hinweise interessieren mich.

7 Kommentare

Bezüglich Radio DRS: Hier existiert natürlich das Radiofon, das telefonisch wie auch per Mail Korrekturen / Kommentare entgegennimmt. Bei den DAB-Radios wird in der Laufschrift darauf hingewiesen. Es muss ja nicht alles (nur) online sein.

Besten Dank für diesen super Linktipp. Vor allem Augsteins Aussage bei ca. 15.00 gefällt mir sehr: «[..] es ist ein Vorurteil, dass Leute, die sich in Blogs und Communities engagieren alle einen Knall haben [..]».
De facto machen die Journalisten beim Freitag eigentlich nichts anderes, als ich oben vorschlage. Nur haben die Berliner Kollegen andere Kanäle (Forum, Leserseite, Leserblogs, usw..).
Apropos Twitter-Schulungen: Eigentlich ist doch klar, dass via Social Media (sei dies Twitter oder Facebook) die Journalisten wachgerüttelt werden, um zu einzusehen, dass man künftig in den Redaktionen vermehrt mit den Menschen draussen reden müsste. Twitter ist hierzu die perfekte technische Hilfe.
Ich behaupte: Erst nachdem die Journalisten die praktischen Funktionen, die die Neuen Medien durchaus bieten, erkennt haben, können grössere Projekte und sinnvolles Crowdsourcing durchgeführt werden.

guter ansatz, geht aber wohl zu weit. die redaktionen sind ja in den meisten fällen noch ganz am anfang. die twitter schulungen in ehren, aber erstens kommen sie sehr spät und zweitens bewegen sich die meisten journalisten auf diesem kanal immer noch eher gschtabig… 😉

ich finde andere ansätze fruchtbarer. es gibt doch ein paar bekannte beispiele von konkretem crowdsourcing, wo sich redaktionen mit konkreten fragen an die leser wenden. z.b. wo kostet das bier wieviel. sie könnten aber auch fragen: wer hat einen sonnenkollektor auf dem dach? und dann die daten auswerten, geschichten dazu machen und so zur energiewende beitragen. .

ich empfehle zu diesem thema das interview mit jakob augstein. der freitag-chef erzählt von der (grossen) bedeutung von leserfeedback für seine redaktion. sein fazit: journalisten brauchen mehr technisches wissen und mehr soziale fähigkeiten:
http://www.dctp.tv/#/republica-2011/lehren-aus-wikileaks-jakob-augstein/

in diesem licht ist dein ansatz vielleicht zu technisch. überspitzt gesagt müsste der ansatz lauten: es braucht menschen auf den redaktionen, die mit den menschen draussen reden.

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