Erfolg dank Ritualisierung: Mit digitalen Produkten Gewohnheiten schaffen

Rund 20’000 Entscheidungen fällen wir jeden Tag. Die Mehrheit dieser Entscheidungen findet unterbewusst in Form von Gewohnheiten statt. Dazu gehört auch, das Smartphone täglich über 200 mal zu checken.

Gewohnheiten sind ein wichtiger Teil unseres Lebens. Sie geben uns Sicherheit und Struktur im Alltag und helfen unserem Gehirn, seine Effizienz zu steigern. Aus wiederholten Abläufen werden mit der Zeit Gewohnheiten, die unser Gehirn automatisch und ohne viel nachzudenken ausführt. Das bietet Platz für anderes – für bewusste Entscheidungen und neue Tätigkeiten.

Manchmal sind Rituale so stark in unserem Alltag verankert, dass wir die Bedeutung dieser Gewohnheiten erst bemerken, wenn sie plötzlich fehlen. Dieses Experiment wagte die BBC vor wenigen Wochen: In einer Studie mit 80 Haushalten durften die Studienteilnehmer:innen während 9 Tagen keine einzige Radio- und TV-Sendung, kein Online-Angebot und keine Social-Media-Dienste der BBC nutzen.

Das Resultat war eindeutig: 70% der gebührenkritischen Haushalte gab nach dem Entzugs-Experiment an, die volle Gebühr oder sogar mehr zahlen zu wollen, um weiterhin BBC-Angebote nutzen zu können.

Wie der traditionelle Medienkonsum durch Gewohnheiten geprägt war

Eigentlich ist die Medienbranche Vorreiterin in Bezug auf gewohnheitsbildende Angebote: Die Zeitung zum Kaffee am Morgen, die Nachrichtenmeldungen zur vollen Stunde im Radio oder der Tagesrückblick am Abend im Fernsehen. Wir haben diese Rituale über Jahrzehnte gebildet und fest in unsere Tagesabläufe eingebaut.

Doch mit dem Aufkommen des Internets haben sich viele dieser Rituale verändert, sowohl aus Nachfrage- wie auch aus Angebotssicht. Plötzlich waren Inhalte jederzeit und überall nachgefragt. Zahlreiche Medienhäuser packten deshalb ihre Angebote im Wettlauf um ein immer grösseres Publikum in endlose Inhalte-Streams. Die Nutzer:innen waren ab sofort selbst verantwortlich, ihre Nachrichtenerlebnisse zu bilden. Damit erleichterten die Medienhäuser zwar die Zugänglichkeit zu ihren Inhalten, verloren jedoch gleichzeitig die ritualisierende Kraft ihrer Angebote.

Gefragt ist deshalb mehr denn je eine Kombination des Besten aus beiden Welten: Die gewohnheitsbildende Kraft der ursprünglichen Medienformen gepaart mit den digitalen Möglichkeiten der heutigen Zeit. Diese Balance zu finden, gleicht allerdings einem Seiltanz. Die Formel dazu: Wer Relevanz schafft, wird genutzt und erzielt durch Ritualisierung schliesslich einen persönlichen Mehrwert.

Weshalb Ritualisierung bei der digitalen Produktentwicklung mitgedacht werden sollte

Erfolgreiche Medienorganisationen fokussieren deshalb auf das Entwicklen neuer Gewohnheiten. Das kann durchaus einige Zeit dauern: Psychologische Studien kamen zum Schluss, dass es zwischen 18 und 254 Tage dauert, um ein neu gelerntes Verhalten zur Gewohnheit werden zu lassen. Im Durchschnitt brauchten die Studienteilnehmer:innen 66 Tage, um ihre neue Gewohnheit zu festigen.

Wie können gewohnheitsbildende Medienangebote entwickelt werden?

Bereits 2019 kam die Medill Local News Initiative in den USA zum Schluss, dass nicht zwingend mehr Reichweite automatisch zu mehr Einnahmen führt. Die Untersuchung unter Beteiligung von 16 Medienhäusern kam zum Schluss, dass vielmehr die Gewohnheit darüber entscheidet, ob man ein Medienangebot auch künftig nutzt und bereit ist, dafür Geld zu zahlen.

Diesen Mechanismus hat die Game-Industrie bereits vor Jahren verstanden. So wurden die Nutzer:innen von kostenlosen Videospielen nach einigen Spielrunden (man erkenne: zur Entwicklung der Gewohnheit) plötzlich angeregt, für Dinge wie Extraleben, Ressourcen und Spezialfähigkeiten zu zahlen.

Wie das «Hook-Modell» Gewohnheiten fördern kann

In seinem Buch «Hooked – How to Build Habit-Forming Products» beschreibt Nir Eyal ein 4-Phasen-Modell, wie Produkte süchtig machen können. Dieses Modell lässt sich auch auf Angebote und Produkte der Medien- und Kommunikationsbranche übertragen.

Ritualisierung führt in der digitalen Produktentwicklung zu messbarem Erfolg. Das Hook-Modell hilft, neue Gewohnheiten zu entwicklen.
Das «Hook-Modell» von Nir Eyal: In 4 Phasen vom Trigger über die Handlung und Belohnung zur Investition und wieder zurück zum Trigger – im Besten Fall im mehrfachen Durchlauf.

Externe und interne Trigger

Zur Etablierung einer neuen Gewohnheit innerhalb eines Produktes braucht es erstmal einen Köder (Trigger). Dies können eine Reihe von Erfahrungen sein, die zusammen das Verhalten der Nutzer:innen nachhaltig verändern und die Bildung neuer Gewohnheiten fördern. In seinem Modell unterscheidet Nir Eyal zwischen externen und internen Triggern.

Externe Trigger können bezahlt (z.B. Social Media-Werbung) oder verdient (z.B. Content Marketing, SEO) sein. Weiter gehören aber auch soziale Trigger (z.B. Empfehlung von Freunden) oder von der/dem Nutzer:in selbst gewählte Entscheide (z.B. Newsletter- / Podcast-Abo) zu diesen «Handlungsauslösern» dazu.

Interne Trigger brauchen keinen Stimulus von aussen. Es handelt sich dabei um einen Gedanken, ein Gefühl oder eine bereits etablierte Routine, z.B. Langeweile, Einsamkeit oder auch Frust. Im Zentrum steht immer die Frage: Welches ist das einfachste Verhalten für den/die Nutzer:in, um eine absehbare Belohnung zu erhalten?

Handlung

Hat der/die Nutzer:in das digitale Produkt entdeckt, geht es um die nächste Hürde: die aktive Interaktion mit dem Produkt. Und wenn wir von Hürde sprechen, so sollte diese möglichst tief sein, um den Eintritt und die Handlung nicht im Vornherein zu verhindern. Die Washington Post hat diese Massnahme bereits früh für sich entdeckt und beispielsweise die Ladezeiten der Website entsprechend auf Millisekunden optimiert – mit messbarem Reichweiten-Erfolg.

Das Ziel dieses Schrittes im «Hook-Modell» ist, aus einer einmaligen, zufälligen Handlung eine gewohnheitsmässige Nutzung entstehen zu lassen. Da wären wir dann auch bei der eingangs erwähnten Wiederholung von Handlungen angelangt: Je häufiger ein Verhalten wiederholt wird, desto einfacher entsteht daraus eine Gewohnheit.

Aus Perspektive der Medienanbieter kann dieses Verhalten durch Regelmässigkeit und Ritualisierung in der Publikation (Zeitpunkt und Plattform) unterstützt werden.

Veränderbare Belohnung

So komplex unser Gehirn aufgebaut ist, so simpel funktioniert es an vielen Stellen. Eine Mehrheit unserer täglichen Handlungen basieren auf einem einfachen Anreizsystem: Sehnsucht, Verlangen und Befriedigung motivieren zum Handeln. Um unser Gehirn aber dauerhaft zu befriedigen, müssen die Belohnungen sich mit der Zeit verändern. Geschieht dies nicht, hören wir schnell auf, ein Produkt oder ein Angebot zu nutzen.

Hier setzt das «Hook-Modell» von Nir Eyal an: Dies besagt, dass unsere Handlung nicht aufgrund der Belohnung selbst geschieht, sondern basierend auf der Erwartung der sich immer wieder verändernden Belohnung. Die Frage, die uns hier im Prozess leitet, lautet also: Ist die Belohnung zufriedenstellend, und macht aber dennoch Lust auf mehr?

Investition

Nun kommen wir zur alles entscheidenden Phase: In der Investitionsphase geht es darum, den/die Nutzer:in zu einem erneuten Durchlaufen des Hook-Kreislaufes anzuregen. Oft wird deshalb die Belohnung zeitlich verzögert – ganz nach dem Prinzip: Je mehr Zeit und Mühe wir in ein Produkt investieren, desto mehr schätzen wir es.

Dabei spielt die Rationalisierung des eigenen Tuns eine wichtige Rolle. Wir versuchen, unser Verhalten und die neu etablierten Gewohnheiten rational zu begründen. Dass die Gründe hierzu auch von Personen in unserem Umfeld entwickelt werden können, spielt oft eine Nebenrolle.

Dieser psychologische Effekt – man kann ihn positiv oder negativ auslegen – führt schliesslich dazu, dass wir uns umso mehr an ein Produkt oder Angebot binden. Da wir früher bereits eine Erst-Investition getätigt hatten, werden wir künftig umso mehr investieren. Und das muss nicht nur Geld, sondern kann z.B. auch Zeit oder generell Aufmerksamkeit sein.

So bildet die Investitionsphase wiederum den Grundstein für einen erneuten Trigger und zum Start eines erneuten Durchlaufs des «Hook-Modells».

Wie Medienhäuser digitale Gewohnheiten bilden

Selbstverständlich kann man den Überlegungen hinter dem «Hook-Modell» sehr kritisch gegenüber eingestellt sein. Ist es wirklich die Aufgabe von Medienorganisationen, ihre Nutzer:innen so sehr in den Bann zu ziehen, dass eine Abhängigkeit oder gar eine Sucht entsteht?

Auf der anderen Seite: Digitale Plattformen spielen bereits seit Jahren mit diesen Effekten – wie ich hier notiert habe. Ist es also verwerflich, im Sinne der guten Sache, auch selbst diese Mechanismen anzuwenden?

Zahlreiche Beispiele zeigen, wie Medienhäuser bereits heute versuchen, digitale Gewohnheiten bei ihren Nutzer:innen zu entwickeln. Das bedingt aber vor allem eines: Ein gesamtheitliches Produktverständnis. Hier habe ich beschrieben, wodurch sich journalistische Produkte auszeichnen.

Unlängst hat die New York Times ihren Games-Bereich durch den Zukauf von «Wordle» ausgebaut. Hier habe ich beschrieben, weshalb diese Strategie durchaus Sinn macht.

In die ähnliche Richtung gehen die Bestrebungen des Guardian. Anfang 2020 (wohl noch ohne zu wissen, was danach folgte) lancierte das Medienhaus eine neue Puzzle- und Quiz-App.

Um besser zu verstehen, welche Handlungen die Nutzer:innen der Washington Post zu wiederkehrenden Leser:innen und gar Abonnent:innen machen, hat das Medienhaus ein interdisziplinäres Team ins Leben gerufen. In einem aufwändigen Prozess wurden sämtliche Aktionen von Neu-Abonnent:innen während der ersten 100 Tage analysiert, um Rückschlüsse über mögliche Trigger-Punkte ausfindig zu machen.

Fragen? Andere Beispiele?

Falls Sie sich eingehender mit den Möglichkeiten des digitalen Wachstums von Medienhäusern auseinandersetzen möchten, empfehle ich Ihnen folgenden Artikel zur «Growth Hacking»-Methode.

Kennen Sie weitere Organisationen, welche bereits erfolgreich gewohnheitsfördernde Angebote lanciert haben? Lassen Sie es mich gerne wissen, indem Sie die untenstehende Kommentar-Funktion nutzen oder mir auf einem anderen Kanal eine Nachricht zukommen lassen. Ich freue mich!

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