Change Tools

Nutzerorientierter Journalismus: Dieses Tool hilft bei der Entwicklung neuer Angebote

Eine Anleitung, wie das User Needs Model die konkrete Anwendung von nutzerorientiertem Journalismus ermöglicht.
Publiziert:
Überarbeitet:

Nutzerorientierung im Journalismus bedeutete in den letzten Jahren vor allem eines: Die technologischen Veränderungen zwangen dazu, dass sich Medieninhalte verändern mussten. Neue Plattformen verlangten nach neuen Storytelling-Formen. Doch auch unmittelbares Feedback der Nutzer:innen führte zu Veränderungen bei journalistischen Formaten – Transparenz und Rechenschaftspflicht wurde sichtbarer.

Warum sich journalistische Formate verändern müssen

Wollen Medienhäuser in Zukunft allerdings ihre Legitimation beibehalten, müssen sich die bisher angebotenen Inhalte erneut weiterentwickeln. Und diesmal nicht hauptsächlich aus technologischen Gründen, sondern auf Basis veränderter Bedürfnisse der Nutzer:innen. Die Vielzahl von Angeboten bedingt eine Schärfung der Positionierung. Zudem verlangt die Zunahme des Tempos zu schnelleren Entscheiden und Anpassungen.

Wer in Zukunft relevant bleiben will, tut gut daran, sein Angebot laufend zu überprüfen und anzupassen. Vor allem mit Blick auf die zunehmende Nachrichtenvermeidung in vielen Ländern, müssen sich Redaktionen ernsthaft Gedanken machen, wie sie Nutzer:innen künftig von ihren Angeboten überzeugen wollen. 

Die letzten Jahre waren deshalb stark von nutzerorientierten Produktentwicklungsprozessen geprägt. Die Design Thinking-Methode bildete die Grundlage dieses Hypes. Doch abseits des Hypes haben sich unterdessen agile und nutzerorientierte Methoden mehr und mehr in redaktionellen Prozessen etabliert. Durch den Einsatz solcher Methoden können Organisationen schneller auf Nutzer:innen-Feedback und Marktveränderungen reagieren.

Das User Needs Model liefert eine Antwort auf Nutzer:innen-Bedürfnisse

Übertragen auf den Journalismus stellt sich deshalb aktuell vor allem eine Frage: Wie können Medienangebote und -inhalte trotz zunehmender Nachrichtenvermeidung die Bedürfnisse der Nutzer:innen besser abdecken?

Dazu hatte die BBC bereits 2017 ein sogenanntes User Needs Model entwickelt. Der Digitalexperte Dmitry Shishkin analysierte damals die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nutzer:innen des digitalen Angebots von BBC World Service. Diese teilte er in sechs Kategorien ein: 

⏰ Bringe mich auf den neuesten Stand (update me)
⚡️ Halte mich auf dem Laufenden (keep me on trend)
💡 Inspiriere mich (inspire me)
🤡 Lenke mich ab (divert me)
🧑🏼‍🏫 Erkläre es mir (educate me)
🔭 Gib mir eine Perspektive (give me perspective)

Bereits vor über fünf Jahren konnte Shishkin der Redaktion mit einer simplen Analyse aufzeigen, dass rund 70% der produzierten Artikel hauptsächlich auf das klassische «update me»-Bedürfnis einzahlten, jedoch nur 7% des Traffics ausmachten. Die übrigen Bedürfnisse (inspirieren, ablenken, Perspektive geben) wurden im Vergleich dazu kaum abgedeckt, führten aber dennoch zu mehr Traffic.

In der Folge passte die Redaktion ihr Angebot stärker den unterschiedlichen Bedürfnissen an und reduzierte zudem ihren Output – mit Erfolg: Die Fokussierung führte zu höherer Nutzung und stärkerer Bindung. Der Beweis war somit erfolgt: Qualitative Inhalte in einer Nische haben Erfolg, wenn sie klar auf Bedürfnisse der Nutzer:innen ausgerichtet sind.

77 menschliche Bedürfnisse als Grundlage für strategische Entscheide

Bedürfnisse sind Urtriebe in uns Menschen. Wenn sie befriedigt werden, schüttet unser Gehirn oft unterbewusst positive Hormone aus. Es gibt weit mehr als nur die sechs News-Bedürfnisse, die uns Menschen zu Emotionen verleiten.

77 Human Needs: Die Grundbedürfnisse des Menschen.
In 77 Human Needs hat die Innovationsagentur DE3P die Grundbedürfnisse des Menschen kartografiert.

So hat die deutsche Innovationsagentur DE3P zum Beispiel 77 menschliche Bedürfnisse ausfindig gemacht und diese in fünf Kategorien eingeteilt. In ihrem «77 Human Needs System» hat DE3P jedes Bedürfnis ausführlich beschrieben und mit Beispielen von Emotionen ergänzt, die durch Erfüllung oder Nichterfüllung dieser Bedürfnisse ausgelöst werden können.

Die Vorteile des User Needs Model in der Praxis

Das User Needs Model basierend auf den sechs News-Grundbedürfnissen hat sich unterdessen in vielen Medienhäusern etabliert. Das hängt vor allem damit zusammen, dass es ein simples, übersichtliches und einprägsames Modell ist. Zudem stellt das Modell eindrücklich unter Beweis, dass eine bedürfnisbasierte Produktion durchaus auch wirtschaftlich erfolgversprechend sein kann. Das bedingt allerdings, dass konsequent datenbasiert gearbeitet und entschieden wird.

Wer nun denkt, dieses Modell reduziere die publizistische Freiheit und schränke die redaktionellen Prozesse ein, mag sich täuschen. Das Gegenteil ist der Fall: Das Tool liefert höchstens eine Inspiration, wie sich Geschichten auch bedürfnisgerechter umsetzen lassen. Dabei bietet das User Needs Model eine Unterstützung, um ritualisierende Angebote herzustellen, welche wiederum zu höherer Bindung und potentiell mehr Aboabschlüssen führen können. Die Verantwortung über die Themenauswahl und Recherche bleibt nach wie vor bei den Journalist:innen.

Das aktualisierte User Needs Model 2.0 im Überblick

Jüngst hat Dmitry Shishkin gemeinsam mit Smartocto, einem Unternehmen für redaktionelle Analysen, das User Needs Modell überarbeitet. Das neu präsentierte User Needs Model 2.0 ist sowohl umfassender als auch praktikabler als die ursprüngliche Version. Im Vergleich zur ersten Version wurde eines der Nutzerbedürfnisse neu formuliert («keep me on trend» wurde zu «keep me engaged») und durch zwei neue Bedürfnisse ergänzt («help me» und «connect me»).

Das User Needs Model hilft bei der nutzerorientierten Entwicklung von neuen Angeboten und Geschichten im Journalismus.
Das User Needs Model 2.0 beschreibt in vier Kategorien die acht Grundbedürfnisse bei der News-Nutzung. Quelle: smartocto.com

Im Mittelpunkt der überarbeiteten Visualisierung stehen die vier Tätigkeiten wissen, verstehen, fühlen und machen. Sie stehen für die verschiedenen Zugänge zu Inhalten: faktenorientiert, kontextorientiert, emotionsorientiert und handlungsorientiert. Diese Kategorien bieten klare Anhaltspunkte für die Erstellung von Inhalten und machen es den Inhaltsersteller:innen leichter zu entscheiden, wie sie ihren Beitrag gestalten wollen.

Pro Kategorie ergeben sich jeweils zwei konkrete News-Nutzungsbedürfnisse:

wissen
⚡️ Halte mich auf dem Laufenden (keep me engaged)
⏰ Bringe mich auf den neuesten Stand (update me)

verstehen
🧑🏼‍🏫 Erkläre es mir (educate me)
🔭 Gib mir eine Perspektive (give me perspective)

fühlen
💡 Inspiriere mich (inspire me)
🤡 Lenke mich ab (divert me)

machen
🤝 Vernetze mich mit anderen (connect me)
🛟 Hilf mir (help me)

Wie Medienhäuser das User Needs Model einsetzen

Verschiedene Medienhäuser haben das User Needs Model bereits für sich angepasst und in ihre Redaktionsabläufe integriert.

Das User Needs Model bei The Atlantic

The Atlantic hat während zwei Jahren seine Nutzer:innen nach deren Bedürfnissen befragt. Herausgekommen sind fünf Grundbedürfnisse, welche sämtliche Leser:innen bei der Nutzung von The Atlantic eint. Anders als bei der Persona-Methodik geht es hier nicht darum, Menschen auf Kernelemente zu reduzieren. Die Leser:innen von The Atlantic weisen viele unterschiedliche Interessen auf, die manchmal sogar miteinander konkurrieren. Die Bedürfnisaussagen würden deshalb helfen, um in der Entwicklung von Produktfeatures und Angeboten die verschiedenen Massnahmen besser zu priorisieren.

Das User Needs Model bei Buzzfeed

«Denke nicht nur über das Thema nach, sondern auch und vor allem über die Aufgabe, die deine Inhalte für die Leser:innen oder Betrachter:innen haben.» Getreu diesem Motto hat Buzzfeed bereits 2017 die eigenen Inhalte «kulturell kartographiert» und somit eine Formel für viralen Erfolg etabliert. Dieses System bewährte sich, sodass künftig der «job to be done» zu jedem produzierten Buzzfeed-Inhalt ebenfalls als Metadaten-Eintrag mit abgefragt wurde.

Das User Needs Model bei der Digital Revenue Initiative

Im Rahmen der Digital Revenue Initiative (DRIVE) der Deutschen Presseagentur dpa und 21 regionalen Medienhäusern, kamen die Projektverantwortlichen jüngst zum Schluss, dass viele Verlage ihre Inhalte nicht zielgerichtet genug produzieren. Die Erkenntnis des Experimentes: Sollen mehr Digital-Abos gewonnen werden, müssen Redaktionen ihre Geschichten stärker auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Leser:innen zuschneiden. Bevor Besucher:innen von regionalen Onlineportalen sich für den Kauf eines digitalen Abonnements entscheiden, lesen sie überdurchschnittlich oft «Inspire me»-Artikel und einordnende Formate («Give me Perspective»). Nach einer Analysephase sollen diese Erkenntnisse nun in den Verlagen verankert werden – hier wird das Vorgehen dazu beschrieben.

Das User Needs Model bei der New York Times

Auch die New York Times (NYT) hat sich mit dem User Needs Model beschäftigt. Allerdings geschieht das bei der NYT eher auf Produkte- als Story-Ebene. Ziel der neu präsentierten Strategie des Medienhauses ist nämlich, die eigenen Produkte so zu positionieren und zu entwickeln, damit Nutzer:innen diese regelmässiger nutzen und im besten Fall eine lebenslange Beziehung aufbauen. Das soll nicht nur mit Journalismus alleine gelingen, sondern auch mit den unterdessen zahlreich hinzugekauften Plattformen und Digitalangeboten. Diese Strategie zeigt, dass das User Needs Model sich durchaus auch abseits von klassischer News-Vermittlung anwenden lässt. Das hier gezeigte Modell entspricht einer inoffiziellen Adaption durch Dmitry Shishkin auf Basis des Investment Deck’s von 2022.

Fragen? Andere Beispiele?

Haben Sie selbst bereits Erfahrungen mit dem User Needs Model in Ihrer Organisation gesammelt? Oder kennen Sie andere Beispiele von Unternehmen, welche eine ähnliche Methodik eingesetzt haben? Lassen Sie es mich gerne wissen, indem Sie die untenstehende Kommentar-Funktion nutzen oder mir auf einem anderen Kanal eine Nachricht zukommen lassen. Ich freue mich!

Einmal im Monat fasse ich Tipps und Leseempfehlungen zu Strategieentwicklung, Change Management und Transformation in einem kostenlosen Newsletter zusammen.

Über 2000 regelmässige Abonnent:innen vertrauen bereits diesem Update für Geist und Herz. Es würde mich sehr freuen, auch Sie künftig zu meiner treuen Leserschaft zählen zu dürfen.

Jetzt anmelden

Name(erforderlich)