Systemische Strategieentwicklung: Die Antwort auf Unsicherheit und steten Wandel

Wann wurde in Ihrer Organisation das letzte Mal ein neues Strategievorhaben ausgerufen? Was war der ausschlaggebende Grund dafür?

Wir tendieren dazu, Entwicklungen kurzfristig zu überschätzen und längerfristig zu unterschätzen. Diese Aussage des Zukunftsforschers Roy Amara hat kaum an Aktualität verloren.

Häufig reagieren Führungskräfte aktionistisch auf neue Trends: Während auf lange Frist kaum Veränderungen in Organisationen angestossen werden, versucht man mit kurzfristigen Massnahmen – oft im Kopier-Eifer inspiriert durch «Best Practice» der Konkurrenz – den Entwicklungen nachzueilen. Neue Change-Projekte werden jedoch kaum basierend auf konkreten Strategiezielen lanciert. Damit lösen Führungskräfte häufig vielmehr ein organisatorisches Chaos aus und verbreiten Unsicherheit im Unternehmen, als sie wirklich einen nachhaltigen Effekt mit ihren Massnahmen erzielen.

Change Fatigue verlangt nach neuen Methoden für Strategieprozesse

Durchschnittlich durchleben Mitarbeitende zehn grössere Veränderungsprojekte pro Jahr an ihrem Arbeitsplatz. Dies entspricht einer Verfünffachung der Anzahl Projekte im Vergleich zu noch vor acht Jahren. Entsprechend nahm die Bereitschaft der Mitarbeiter:innen, den Wandel im Unternehmen zu unterstützen ab: Der Anteil der zustimmenden Mitarbeitenden sank im Jahr 2022 auf nur noch 43%, verglichen mit 74% im Jahr 2016. Von Change Fatigue ist vielerorts zu lesen.

Doch um Veränderungen kommt die Branche nicht herum: Sich rasch ändernde Nutzer:innen-Bedürfnisse, technologische Neuerungen und ein immer intensiverer Wettbewerb zwingen Organisationen in der Medien- und Kommunikationsbranche zum Handeln.

Systemische Strategieentwicklung als Antwort auf die zahlreichen Herausforderungen in der Medien- und Kommunikationsbranche.

Transformationsprozesse wechseln sich deshalb laufend ab – und doch scheitert die grosse Mehrheit dieser Veränderungsprojekte ohnehin. Weshalb ist das so? Und ist demnach auch der Begriff der Transformation obsolet geworden?

Eine mögliche Antwort lässt sich in der Natur finden. Charles Darwin prägte die Theorie über die Anpassungsfähigkeit der Artenvielfalt und Regeneration von Ökosystemen. Von Natur aus geschieht dies evolutionär – also nicht auf Anweisung, sondern rein im Einklang mit der Umwelt. Überträgt man dieses Konzept auf die Geschäftswelt, so gelingt eine regenerative Transformation, wenn Unternehmen ihre Tätigkeiten harmonischer mit dem breiten Ökosystem der Menschen, Orte und Organisationen verbindet, in denen es tätig ist.

Wie die Entwicklung neuer Strategien umgesetzt werden kann

Deshalb bedeutet Strategiearbeit heute vielmehr, Trends gesamtheitlich zu erkennen und zu deuten, um daraus ein überzeugendes Zukunftsbild ableiten und dieses gleichzeitig in eine sinnvolle Ziel- und notwendige Kulturentwicklung überführen zu können.

Wo und durch wen findet Strategieentwicklung statt?implizitexplizit
ausserhalb des Managementsystems (Strategie ist Chefsache)die Unternehmensspitze entscheidet intuitiv und eigenständigein Kreis von internen oder externen Expert:innen entscheiden
innerhalb des Managementssystems (Strategie ist Verantwortung des Führungssystems)Strategien entstehen evolutionär oder zum Teil auch zufällig durch eine hohe Selbstverantwortung der FührungskräfteStrategien werden mit einem systemischen Blick als gemeinschaftliche Leistung und durch tägliches Führungshandeln entwickelt
Verschiedene Formen der Strategieentwicklung: Vergewissern Sie sich vor dem Start eines neuen Strategieprozesses, in welcher Art sie diese angehen wollen – und machen Sie dies gegenüber der Organisation transparent.

In Zeiten von VUCA und BANI (Weiterführung des VUCA-Modells mit Blick auf völlig unvorhersehbare Entwicklungen: brüchig, ängstlich, non-linear, unbegreiflich) stossen deshalb traditionelle Strategiemethoden an ihre Grenzen.

Systemische Strategieentwicklung als Antwort auf die zahlreichen Herausforderungen

Strategieprozesse sollten sich deshalb stärker auf Rahmenbedingungen als auf fixe Ziele fokussieren. Kommt hinzu, dass kritische Probleme am Arbeitsplatz wie z.B. oft mangelnde Führungsqualität, die psychologische Sicherheit der Mitarbeitenden und der Mangel an Zugehörigkeit und Integration allesamt auf systemische Faktoren zurückzuführen sind. Also Faktoren, die in der Organisationskultur und in -prozessen eingebettet sind.

Resilienz, Empathie, Adaptivität und Transparenz können eine Antwort auf solch chaotische Zeiten darstellen. Als nützliche Methode, um all diese Herausforderungen anzugehen, kommt hier die systemische Strategieentwicklung ins Spiel. Der systemische Ansatz unterscheidet sich von traditionellen Strategiemodellen durch seine ganzheitliche Betrachtungsweise.

Analog der Theorie von Darwin in der Natur wird in diesem Ansatz anerkannt, dass Unternehmen nicht isoliert agieren, sondern Teil eines grösseren Ökosystems sind. Die systemische Betrachtungsweise zielt darauf ab, die Interaktionen innerhalb des Ökosystems zu verstehen und strategisch zu nutzen. Durch diesen Ansatz können Unternehmen besser auf Veränderungen reagieren, Chancen proaktiv nutzen und Risiken minimieren.

6 Perspektiven der systemischen Strategieentwicklung

Wodurch unterscheidet sich die systemische Strategieentwicklung nun konkret von der bisherigen Strategiearbeit? Und wie können die zahlreichen Herausforderungen mit einem systemischen Blick angegangen werden?

Die Organisationsentwickler:innen Volker Köhninger, Andrea Mikoleit und Thorsten Veith haben 6 Perspektiven der systemischen Strategiearbeit entwickelt. Darin zeigen sie plakativ auf, wie der Prozess der Strategiearbeit gesamtheitlich in der eigenen Organisation neu gedacht werden kann:

1. Weniger elitärer Arbeitskreis, mehr intelligente Beteiligung von Schlüsselpersonen

Strategiearbeit soll nicht nur einer elitären Gruppe vorbehalten sein, sondern eine intelligente Beteiligung von Fachexpert:innen aus allen Bereichen des Unternehmens fördern. Diese sind wichtig für den Erfolg des Strategieprozesses, indem sie Insiderwissen und Engagement beisteuern. Sie werden zu Beginn des Prozesses als Teilnehmer:innen für die Bestandsaufnahme und Checks des Strategieprozesses hinzugezogen und dienen später als Ideen- und Resonanzgeber.

In der Umsetzungsphase fungieren sie als aktive Multiplikatoren im täglichen Handeln. Mit der Einbindung dieser Personen und der Schaffung neuer, dialogorientierter Arbeitsformate investieren Sie zugleich auch in die Unternehmenskultur.

2. Weniger Delegation nach oben, mehr Selbstverantwortung der Beteiligten

Im systemischen Strategieprozess wird eine Verlagerung der Verantwortlichkeiten der Unternehmensführung hin zu mehr Eigenverantwortung der Mitarbeitenden angestrebt. Aktive und interessierte Personen im Unternehmen sollen den Strategieprozess effektiver gestalten. Das erfordert ein Umdenken und eine Neuausrichtung des bisherigen Ansatzes. Das Topmanagement muss die eigene Rolle als Wegbereiter und Vorbild stärken und zugleich auch Entscheidungen aktiv loslassen können.

Währenddessen müssen Führungskräfte und Fachexpert:innen lernen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Dies kann durch Weiterbildung, Überzeugungsarbeit und auch dem Einbringen von methodischen Kompetenzen erreicht werden. Systemische Strategieprozesse sehen vor, dass strategische Diskussionen laufend in einen kulturellen und organisatorischen Entwicklungsprozess überführt werden.

3. Weniger Zahlenfokus und Prognosen, mehr integrierte Kulturtransformation

Strategieprozesse in chaotischen Zeiten können kaum noch ausschliesslich auf historischen Zahlen und Erfahrungen basieren. Neben der Analyse von Daten aus der Vergangenheit sowie darauf basierenden Zukunftsprognosen müssen Organisationen vor allem in die Reaktionsfähigkeit auf disruptive Marktveränderungen investieren.

Das Erkennen subtiler Veränderungssignale und schnelles professionelles Reagieren darauf werden zunehmend zu kritischen Wettbewerbsfaktoren. Wem es hier gelingt, die rationalen Ansätzen mit emotionalen Aspekten zu verknüpfen, führt zu einem starken Umsetzungsantrieb. Die Kombination von harten Fakten mit inspirierenden Visionen kann bei den Mitarbeitenden Begeisterung, verstärkte Identifikation mit der Organisation und ein stärkeres persönliches Interesse an Veränderungen wecken.

4. Weniger lineare Projektplanung, mehr iteratives Vorgehen in Szenarien

Weshalb werden Jahresziele in vielen Organisationen kaum je erreicht? Häufig stellt ein Jahr als Zeiteinheit einen viel zu langen Zeithorizont dar. Kleinere Einheiten sind bei der täglichen Arbeit stärker präsent und auch mental besser greifbar. Ähnlich verhält sich dies mit Strategieprojekten. Neben der traditionellen linearen Planung sollten Strategieprojekte auch iterative Prozesse einbeziehen, um ihrer Komplexität gerechter zu werden.

Agilität lässt sich durchaus auch auf die Strategieentwicklung adaptieren. Im Projektverlauf ist es wichtig, Ziele und Annahmen regelmässig zu überprüfen und anzupassen, basierend auf den jeweils erreichten Ergebnissen. Diese Kombination aus klassischer und iterativer Planung kann zwar herausfordernd sein, führt jedoch zu einer verbesserten Strategieeffektivität. Ziel ist es, in einem dynamischen Prozess zu arbeiten, der verschiedene Zielkorridore, Optionen und Szenarien berücksichtigt.

5. Weniger Fachfokus, mehr Regiekompetenz

Strategiearbeit sollte nicht nur auf spezifische Fachbereiche konzentriert sein, sondern vielmehr eine kollektive Anstrengung unter Einbezug so genannter Regiekompetenz darstellen. Eine effektive Strategiearbeit setzt voraus, dass alle Beteiligten bereit sind, ihre Ansichten in einem offenen Dialograum zu teilen und unterschiedliche Perspektiven aktiv zu berücksichtigen und zu diskutieren.

Neben Fachexpert:innen sind insbesondere Regieexpert:innen gefragt. Diese sind in der Lage, den Austausch zu moderieren und den komplexen Strategieprozess im Hinblick auf unternehmerische Kernziele zu steuern. Diese Form der Zusammenarbeit ermöglicht eine tiefere Integration des Prozesses in die Unternehmenskultur sowie eine bessere Orchestrierung des gesamten Prozesses.

6. Weniger periodische Intervention, mehr Strategie als tägliches Handeln

Um Strategieprozesse zum Erfolg zu führen, sollten diese nicht nur durch gelegentliche Massnahmen, sondern durch tägliche Handlungen im Unternehmen verankert werden. Langfristige Ziele und die Wirkung des Strategieprozesses müssen für alle Mitarbeiter:innen im täglichen Geschäft greifbar und umsetzbar sein.

Zur Unterstützung des täglichen strategischen Handelns dient die Beantwortung folgender konkreter Fragen: Woran messen wir den Erfolg der Strategieumsetzung? Wie sind Feedbackprozesse organisiert? Wie werden Sitzungen durchgeführt? Werden die benötigten Ressourcen zur Entwicklung eines Wissensmanagements und einer Lernkultur zur Verfügung gestellt? Häufig geht bei Strategieprozessen zudem vergessen, dass systemprägende Elemente wie Zielvereinbarungen, Arbeitszeitenregelungen und Vergütungssysteme ebenfalls anzupassen sind.

Herausforderungen bei der Umsetzung von systemischen Strategieprozessen

Obwohl die systemische Strategieentwicklung viel Potential birgt, ist sie nicht frei von Herausforderungen. Diese zu erkennen und effektive Lösungen zu finden, ist entscheidend für den Erfolg einer jeden strategischen Initiative.

  • In vielen Organisationen besteht eine natürliche Tendenz, am Status quo festzuhalten. Veränderungen, die einen Paradigmenwechsel wie den Übergang zu einem systemischen Ansatz erfordern, können auf Widerstand stossen. Offene und klare Kommunikation, die Bereitstellung von Weiterbildungsmöglichkeiten sowie der frühe Einbezug aller Beteiligten helfen, Ängste zu minimieren und ein Gefühl der Mitverantwortung zu fördern.
  • Die Komplexität wird durch die Einführung von systemischen Prozessen nicht kleiner, sondern kann schnell überwältigend wirken. Beginnen Sie deshalb mit kleineren, überschaubaren Initiativen, um den systemischen Ansatz schrittweise einzuführen. Indem Sie Komplexität visualisieren und dafür nach passenden Metaphern suchen, können Sie die Entscheidungsfindung unterstützen.
  • Traditionelle Managementstrukturen und -prozesse weisen sich oft als zu starr, um die für den systemischen Ansatz erforderliche Flexibilität zu gewährleisten. Wo immer möglich, sollten Sie deshalb erstmal auf agilere Methoden setzen. Das beginnt z.B. mit der Ermächtigung von Teams, Entscheidungen in einem gewissen Rahmen selbst und auf Grundlage ihrer vorhandenen Informationen zu treffen.
  • Die systemische Strategieentwicklung erfordert aktive Einbindung einer breiten Palette von Stakeholdern, was logistisch herausfordernd sein kann. Eine sorgfältige Analyse und Kategorisierung von Stakeholdern kann helfen, um die Kommunikation und Einbindung zu erleichtern.

Die Überwindung dieser Herausforderungen erfordert Engagement, Kreativität und die Bereitschaft, Bestehendes aktiv zu hinterfragen. Organisationen, die erfolgreich einen systemischen Ansatz implementieren, können nicht nur schneller auf aktuelle Schwierigkeiten reagieren, sondern sind auch besser darauf vorbereitet, zukünftige Veränderungen proaktiv zu gestalten.

Ausserdem bilden Sie mit einem systemischen Ansatz die perfekte Basis, um in einem nächsten Schritt ein strategisches Foresight zu etablieren. Diese Methodik wiederum hilft, sich als Unternehmen frühzeitig und regelmässig mit der Zukunft auseinanderzusetzen.

Fragen? Andere Beispiele?

Haben Sie systemische Strategieprozesse in Ihrer Organisation bereits etabliert? Mit welchen Herausforderungen kämpfen Sie aktuell bei Strategieprozessen in Ihrer Organisation? Lassen Sie es mich gerne wissen, indem Sie die untenstehende Kommentar-Funktion nutzen oder mir auf einem anderen Kanal eine Nachricht zukommen lassen. Ich freue mich!

Tipps zu Strategieprozessen und Organisationsveränderungen liefere ich übrigens auch alle 3-4 Wochen als kostenlosen Newsletter. Dazu gehören kurze Einordnungen, Leseempfehlungen und Praxis-Beispiele rund um die Themen digitale Transformation, Change Management und Strategiearbeit.

Über 2000 regelmässige Abonnent:innen vertrauen bereits diesem Update für Geist und Herz. Es würde mich sehr freuen, Sie künftig zu meiner treuen Leserschaft zählen zu dürfen. Hier können Sie sich für den Newsletter eintragen.




Weitere Artikel zum Thema

Schreibe einen Kommentar